Neue Zürcher Zeitung, 27.11.1999 Reicht Europa bis nach Mesopotamien? Es ist kurz nach neun Uhr morgens, und plötzlich stehen alle Autos still. Die Polizeiwagen lassen ihre Sirenen heulen, und die Passanten auf der Hauptstrasse verharren wie angewurzelt auf der Stelle. Was sich hier zwischen Euphrat und Tigris in der Stadt Urfa im Norden Mesopotamiens abspielt, ist ein Ritual, zu dem die über 60 Millionen Türkinnen und Türken jeweils am 10. November aufgerufen sind: am Todestag von Atatürk eine Schweigeminute einzuhalten. Der Gründer der türkischen Republik hätte wohl Freude am Anblick seines Volkes, das ihn auch 61 Jahre nach seinem Tod in Ehren zu halten scheint. In Urfa wird deutlich, welch grandiose Ziele Atatürk seinem Land gesetzt hat. Vor den Toren der Stadt erhebt sich der massige, nach dem Staatsgründer benannte Staudamm. Das Wasser des Euphrats liefert gewaltige Mengen an Strom und bewässert die endlose, bis an die syrische Grenze reichende Harran-Ebene. Da, wo vor einer Generation noch arabischstämmige Fellachen in Lehmhütten hausten, unzähmbare kurdische Stämme in den kargen Hügeln siedelten und Christen sich in festungsähnlichen Dörfern verschanzten, da soll an den Oberläufen von Euphrat und Tigris ein ganzes System von Dämmen und Kanälen der Türkei den so dringend benötigten Schub in die Moderne geben. Finanzanalytiker sprechen von einem «Emerging Market». Türkische Politiker sind davon überzeugt, dass sich dank wirtschaftlichem Aufschwung im Südosten das Kurdenproblem von selbst erledigt. Wird Atatürks Absicht, die Türkei in die Moderne, und damit in Richtung Europa, zu führen, in Erfüllung gehen? Es scheint eine ausgemachte Sache zu sein, dass die Türkei am Gipfeltreffen der EU in Helsinki am 10. und 11. Dezember in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen wird. Vor zwei Jahren noch wurde das Land, das seit 1964 durch einen Assoziationsvertrag mit Brüssel verbunden ist, am EU-Gipfel in Luxemburg auf später vertröstet. Europäische Vorbehalte gegenüber Ankaras Umgang mit den Menschenrechten gaben damals den Ausschlag für die Entscheidung. Die Türken, die den Anschluss aus wirtschaftlichen Gründen mehrheitlich wünschen, waren in ihrem Stolz tief getroffen. Sie konnten nicht verstehen, dass osteuropäische Länder, die nicht in jeder Hinsicht Musterdemokratien sind, als Kandidaten aufgenommen wurden. Zuvor hatte die Armee ihre Sicht von Rechtsstaatlichkeit deutlich gemacht, den Regierungschef Erbakan zum Rücktritt gezwungen und die islamistische Wohlfahrtspartei verboten. Im schmutzigen Krieg gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK, die sich auch terroristischer Methoden bediente, setzten sich die Generäle durch. Sie drohten vor Jahresfrist Syrien kurzerhand mit einem Truppeneinmarsch, bewirkten damit die Ausweisung des PKK-Führers Öcalan aus Damaskus und versetzten der autoritär geführten Bewegung damit jenen entscheidenden Schlag, der ihre militärische Niederlage beschleunigte und in der Ergreifung und Verurteilung Öcalans gipfelte. Eine politische Lösung der Kurdenfrage, dies machte das türkische Berufungsgericht mit seinem negativen Urteil im Fall Öcalan am Donnerstag erneut deutlich, ist in der Türkei in weiter Ferne. Die Armeeführung ist in ihrer harten Linie bestätigt worden. Für Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und alle andern, die auf eine Lockerung der Fronten nicht nur in der Kurdenfrage gewartet haben, bedeutet dies nichts Gutes. Und diese Türkei soll nun in die EU? Das Land am Bosporus verfügt über genügend Potential, um im Balkan, in der Ägäis oder im Kaukasus europäischen Interessen entgegenzuwirken. Dies allein ist aber noch kein Grund für eine Einbindung in die EU. Hingegen kann sich Europa an seiner Südostflanke nur schlecht einen innenpolitisch labilen Nato-Partner leisten, bei dem nationalistische oder religiöse Eiferer den Ton angeben. Zündstoff ist im Überfluss vorhanden. Nicht nur die Kurden und andere Ethnien fordern ihre Rechte. Zwischen der alewitischen Minderheit und der Mehrheit der sunnitischen Muslime gärt ein Konflikt mit einem beunruhigenden Gewaltpotential, der im streng laizistischen Staat totgeschwiegen wird. Die Spannungen entladen sich - das haben die Kurdendemonstrationen in den europäischen Industriezentren in den letzten Jahren deutlich gezeigt - längst auch ausserhalb der Türkei. Die Millionen von türkischen Emigranten haben den Weg nach Europa vorgespurt. Doch soll sich Europa wirklich in Händel weitab vom alten Kontinent mischen? Wegen der Staudämme an Euphrat und Tigris droht in Mesopotamien ein Konflikt mit dem Irak und mit Syrien, der mit zunehmender Wasserknappheit in den flussabwärts liegenden Ländern zu einem Krieg führen könnte. Nachdem europäische Firmen an den gewaltigen Bauten gut verdient haben, wäre es nicht zuviel verlangt, wenn sich Europa nun an einer politischen Einigung über Wasserrechte mit den arabischen Anrainerstaaten beteiligen würde; Ankaras populistische Politiker sind dazu nicht in der Lage. Ein türkisches Näherrücken an Europa eröffnete auch die Aussicht auf eine Einigung in der blockierten Zypernfrage. Sind geostrategische Überlegungen also entscheidend für die Aufnahme in ein Bündnis, das sich auch als eine Wertegemeinschaft definiert? Im Aussenministerium in Ankara wird die Meinung vertreten, Europa, und vor allem Deutschland, habe mit diesen Werten in der Vergangenheit ein übles Spiel getrieben. Kohls Christlichdemokraten hätten der Türkei Menschenrechtsverletzungen vorgehalten, sich in Tat und Wahrheit aber gegen die Aufnahme eines Landes mit fast ausschliesslich muslimischer Bevölkerung gewandt. Seit dem Amtsantritt von Schröders rot-grüner Koalition habe sich dies endlich geändert. Hinter vorgehaltener Hand wird die konsequente Haltung des deutschen Aussenministers Fischer gewürdigt, der versucht hatte, die Lieferung eines Leopard-II-Panzers zu Testzwecken von einer Verbesserung der Menschenrechtslage abhängig zu machen. Fischer unterlag mit seinem Anliegen. Den türkischen Generälen, die den deutschen Panzer andern Konkurrenzprodukten vorziehen, wurde aber klar, welche Werte in Europa wirklich gelten. Die Türkei ist nicht zu vergleichen mit Russland, wo die westliche Politik der Einbindung misslang und sich, wie zum Beweis dafür, das tschetschenische Drama wiederholt. Die Begriffe europäischer Rechtsstaatlichkeit sind dem Land am Bosporus hingegen nicht fremd. Seit Jahrzehnten werden sie von einer politischen Klasse in Ankara propagiert, die, beinahe unisono, für sich in Anspruch nimmt, Atatürks Erbe zu verwalten. Doch ein Erbe, das Bestand haben soll, muss vorausblickend bewirtschaftet sein. Die türkischen Politiker taten dies nur allzu oft in eigennütziger Art, bereicherten sich schamlos und verloren in der Bevölkerung viel von ihrer Glaubwürdigkeit. Atatürks laizistisches Modernisierungskonzept erstarrte zum sinnleeren Korsett, eisern verteidigt nur von der Armee. Um die verkrustete politische Struktur im Lande aufzubrechen und mit neuen, zeitgemässen Inhalten zu beleben, ist ein Anstoss von aussen nötig. Jene Türken, die unter Modernisierung mehr als nur den Bau von Staudämmen verstehen, erhielten mit der Perspektive eines EU-Beitritts die nötige Rückendeckung. Wie weit sich Staat und Volk voneinander entfernt haben, wurde nach dem verheerenden Erdbeben im August mit einem Schlage deutlich. Während die Staatsorgane bei der Hilfeleistung fast völlig versagten, leisteten türkische Freiwilligenorganisationen im Verbund mit ausländischen Rettungsteams Hervorragendes. Die türkischen Retter wurden in den Medien als neue Helden gefeiert. Der Staat war von der Eigeninitiative dieser jungen Helfer überrumpelt worden. Da waren mit einem Male unerschrockene Leute ins Rampenlicht gerückt, die nicht darauf warten, sich den Weg von korrupten Politikern weisen zu lassen. Diese Art der Bürgerinitiative, so lokal beschränkt sie im Falle der Erdbebenhilfe auch gewesen sein mag, ist in ihrer Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Eine Bürgergesellschaft lässt sich nicht von oben herab verordnen. Sie muss von unten gefordert und erkämpft werden. Allen, die sich dafür einsetzen, sollte Europa unter die Arme greifen. Das mindestens zehn Jahre dauernde Aufnahmeverfahren verpflichtet die EU zu nichts Endgültigem. Ankara hingegen muss in Konkurrenz zu weit jüngeren osteuropäischen Demokratien den Beweis eines politischen und wirtschaftlichen Wohlverhaltens erbringen. Noch fliesst viel Wasser den Rhein hinab, bis man sich in Brüssel daran gewöhnen wird, dass Europa dereinst bis nach Mesopotamien reichen könnte.
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