Die Welt, 29.11.1999 "Die EU ist keine Festung des Christentums" EU-Außenkommissar Chris Patten ist für eine Aufnahme der Türkei -Weitere neue Kandidaten sind für ihn zur Zeit nicht erwünscht Brüssel - Mitte Dezember wollen die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die Türkei zum Beitrittskandidaten ernennen und zugleich die Aufnahmeverhandlungen mit sechs weiteren Staaten beginnen. Damit setzt auch die neue EU-Kommission ihre ersten großen außenpolitischen Akzente. Mit EU-Außenkommissar Chris Patten sprachen Andreas Middel und Nikolaus Blome. DIE WELT: Herr Patten, ist Ihnen wohl bei dem Gedanken, die Türkei demnächst feierlich zum EU-Beitrittskandidaten zu küren? Chris Patten: Darüber bin ich hoch erfreut. Die EU ist keine Festung des Christentums. Wir haben ein großes Interesse, die Türkei an Europa zu binden. DIE WELT: Muss man sie dazu aufnehmen? Patten: Das haben wir den Türken 1963 in Aussicht gestellt, und dazu müssen wir jetzt stehen. Zugleich werden wir die Bedingungen für die Aufnahme von Verhandlungen oder einen späteren Beitritt keinesfalls verwässern. DIE WELT: Und wann kommt die Ukraine? Patten: Für längere Zeit sollten wir kein weiteres Land mehr als Kandidaten hinzunehmen. Wenn wir vor der einen Erweiterung immer schon die nächste ins Auge fassen, dann stehen wir irgendwann vor der Frage, ob wir Japan aufnehmen wollen. Deshalb lehnen wir nicht die europäischen Wünsche mancher anderer osteuropäischen Staaten ab. Es gibt aber einen Unterschied zwischen dem Wunsch, bessere Beziehungen mit Europa zu unterhalten, und dem Wunsch, Mitglied der EU zu werden. Nicht jeder muss EU-Mitglied werden. Mit der Ukraine sollten wir erst einmal unser Partnerschaftsabkommen zum Erfolg führen. DIE WELT: Die EU wird ab Dezember mit insgesamt zwölf Staaten verhandeln. Das hat es noch nie gegeben. Was bleibt da auf der Strecke, die Qualität oder das Tempo? Patten: Mit Blick auf den Osten Europas kann uns eigentlich niemand übergroßes Tempo vorwerfen. Die Mauer ist seit zehn Jahren gefallen, und seitdem haben wir eine moralische Verpflichtung. Als die Diktaturen in Spanien und Portugal überwunden waren, haben wir viel rascher mit Beitrittsverhandlungen begonnen. DIE WELT: Aber kann die EU-Kommission mit so vielen Kandidatenstaaten gleichzeitig seriös verhandeln? Patten: Wir werden Qualität und Tempo ausbalancieren müssen. Und wir werden uns ändern müssen, damit wir die Probleme schneller und flexibler handhaben können. Wir brauchen Abläufe, wo nicht 35 Unterschriften auf jeder Akte nötig sind. Trotzdem hängt von jedem Beitrittskandidaten selbst ab, wann er beitreten kann. Je schneller ein Land mit den Reformen vorankommt und schließlich die Bedingungen erfüllt, umso schneller ist es Mitglied. Diese Bedingungen werden nicht verändert. DIE WELT: Vor 18 Monaten hieß es, dass ein Land wie Rumänien noch längst nicht reif sei für Verhandlungen; jetzt urteilt die EU-Kommission anders. Was hat sich in Rumänien denn so gravierend verbessert? Patten: Sie kommen voran. Sie wären verblüfft zu sehen, wie europäisch die rumänische Kultur ist. Noch einmal, wir werden die Beitrittskriterien nicht verwässern. DIE WELT: Viel der neuen Euphorie hängt wohl mit dem Kosovo-Krieg zusammen und dem Eindruck, den Balkan irgendwie stabilisieren zu müssen. Was tun Sie als EU-Außenkommissar dort sonst noch? Patten: Zwischen den Staaten der Region muss es vor allem mehr Handel geben. Das ist wichtiger, als nur den Zugang zum EU-Markt zu verbessern. Es wäre ein fürchterlicher Fehler der EU, wirtschaftliche Abhängigkeiten zu erzeugen und die Menschen dort zugleich vor den Folgen ihrer politischen Fehler immer wieder zu schützen. Außerdem muss noch der kommunistische Chip aus manchen Köpfen entfernt werden: Das bedeutet, dass wir die Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat und die Parteien zurückdrängen müssen. DIE WELT: Muss man Serbien nicht teilhaben lassen, weil die Region ohne die serbische Wirtschaft in der Mitte nicht in Schwung kommt? Patten: Natürlich wäre es leichter, wenn es nicht ein großes Loch in der Mitte gäbe. Aber es geht auch um eine Demonstration für die Serben. Sie sollen sehen, welcher Aufschwung möglich ist. Deshalb liefern wir serbischen Städten, die von der Opposition kontrolliert werden, auch Öl. Das ist äußerst riskant, aber den Versuch wert. DIE WELT: EU-Kommissionspräsident Romano Prodi hat jüngst 5,5 Milliarden Euro an EU-Hilfe bis 2006 für den Balkan angekündigt. Ist das zu viel oder zu wenig? Patten: Wir wollen nicht nur Schecks auf den Tisch legen. Wir wollen klare Vorgaben für die wirtschaftliche Kooperation in der Region. DIE WELT: Kann die EU-Kommission solche Summen überhaupt sauber abwickeln? In Bosnien gab es große Probleme. Patten: Ich habe schon mehrfach gesagt: Wir haben viel Geld, gute Leute, aber lausige Verfahren. DIE WELT: Wer hat daran Schuld? Patten: Zum Teil die Mitgliedsstaaten, die uns über die Jahre vorgeschrieben haben, wie die EU-Kommission zu arbeiten hat. Zum Teil ist es unser eigener Fehler. Brüssel steht nicht gerade im Ruf, dynamisch und flink zu sein. DIE WELT: Das Europäische Parlament hält zum Beispiel die Rolle des "Koordinators für den Stabilitätspakt", Hombach, schlicht für überflüssig. Patten: Das Parlament hat Recht mit der Warnung, nicht immer nur eine Initiative auf die andere zu stapeln. Sehr oft wäre die beste Initiative, eine schon existierende auch durchzuführen. Aber Herr Hombach ist wichtig für Koordinierung mit den Ländern, die nicht zur EU gehören. Er macht seine Sache ganz gut.
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