Frankfurter Rundschau, 30.11.1999 Ein mächtiger Stolperstein auf dem Weg in die EU Am liebsten würden die türkischen Militärs ihre zahlreichen Privilegien mit nach Europa nehmen Von Gerd Höhler (Athen) Zwei Wochen vor dem EU-Gipfel im finnischen Helsinki, auf dem die Weichen für eine Annäherung der Türkei an Europa gestellt werden sollen, melden sich die Streitkräfte zu Wort. Die Generäle befinden sich in einem Dilemma: Einerseits sind sie traditionell westorientiert; andererseits ist es die dominierende Rolle der Armee, die den europäischen Ambitionen des Landes im Wege steht. Die Militärs befürworten den angestrebten EU-Beitritt der Türkei, so eine Erklärung des Generalstabs, als "eines der wichtigsten außenpolitischen Ziele des Landes". Schon das ist entlarvend. In welchem anderen europäischen Land könnte es sich die Generalität anmaßen, außenpolitische Erklärungen abzugeben? In der Türkei gilt das als völlig normal. Und daran soll sich nach dem Willen der Militärs auch nichts ändern. Eine jetzt der Presse zugespielte, eigentlich nur für den Dienstgebrauch bestimmte Broschüre mit dem Titel "Aktuelle Themen" stellt klar, dass die Militärs auch in einer für den EU-Beitritt kandidierenden Türkei nicht auf ihre aktive Teilnahme in der Politik zu verzichten gedenken. Die "besonderen Verhältnisse" in der Türkei, so die Schrift, rechtfertigten die herausgehobene Rolle der Militärs. Die gegenwärtig von verschiedenen Politikern in Ankara angestellten Überlegungen, eine Reihe von bisher beim Generalstab liegenden Kompetenzen auf das Verteidigungsministerium zu übertragen, stoßen bei den Generälen auf entschiedenen Widerspruch. Solche Pläne zielten auf eine "Schwächung der Streitkräfte" ab, heißt es in der Broschüre. Neben den Menschenrechtsdefiziten, der Minderheitenpolitik und den wirtschaftlichen Strukturproblemen steht auch die Machtstellung der Militärs einer Annäherung an die EU im Wege. Die Streitkräfte, so entspricht es europäischem Staatsverständnis, müssen der Kontrolle der Zivilpolitiker unterstehen. In der Türkei ist es umgekehrt. Die Militärs sehen sich als die Wächter der Republik, als eine über allen Institutionen stehende, höchste Instanz. Einer aus ihren Reihen, der General Mustafa Kemal, begründete vor 76 Jahren die moderne Türkei und wird seither als Atatürk, als "Vater der Türken", von der Nation verherrlicht. Die Militärs betrachten sich als seine Erben. Unter Berufung auf Atatürks Vermächtnis putschten sie seit 1960 drei Mal. Dabei hatte gerade der Staatsgründer seinen Generälen immer wieder eingeschärft, dass aktive Offiziere nichts in der Politik verloren haben. Alarmiert reagieren die Uniformierten nun vor allem auf die Vorschläge der islamistischen Tugend-Partei. Sie möchte im Rahmen einer Verfassungsreform den Nationalen Sicherheitsrat (MGK) neu organisieren. Das paritätisch von den jeweils fünf ranghöchsten Militärs und den führenden Zivilpolitikern besetzte Gremium wird in Wirklichkeit von den Generälen dominiert. Dort, nicht im Kabinett oder im Parlament, fallen die eigentlichen politischen Entscheidungen. Der MGK gibt laut Verfassung zwar nur "Empfehlungen" ab, die von der Regierung "mit Vorrang" zu behandeln sind. Doch bisher hat es nur eine Regierung gewagt, sich dem MGK zu widersetzen, die des islamistischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan. Er ignorierte die "Empfehlung" der Militärs, den Umtrieben der militanten Fundamentalisten ein Ende zu machen, und wurde kurz darauf von den Generälen aus dem Amt gehebelt. Die Islamisten schlagen vor, dass künftig im Sicherheitsrat nur noch ein Uniformierter sitzen soll, der Generalstabschef. Das lehnen die Militärs empört ab. Solche Ideen, heißt es in der Broschüre, "ignorieren entweder die Geschichte oder, schlimmer noch, stellen einen Angriff auf die türkischen Streitkräfte dar". Aber es geht nicht nur um politische Macht. Auch ihren Einfluss auf die Wirtschaft des Landes sehen die Generäle bedroht. Der vom Militär kontrollierte Ordu Yardimlasma Kurumu, der Armee-Beistandsverein, kurz OYAK, ist heute eine der größten Holding-Gesellschaften des Landes. Gegründet nach dem Putsch von 1960 als Offizierskasse, sollte die OYAK ursprünglich Ferienheime betreiben, ihren Mitgliedern zinsgünstige Wohnungsbaukredite anbieten, Zuschüsse zur staatlichen Altersrente zahlen und in Härtefällen helfen. Alle Offiziere und Unteroffiziere sind automatisch OYAK-Mitglieder und führen zehn Prozent ihrer Gehälter an die Organisation ab. Mit den Beiträgen ihrer rund 80 000 Mitglieder hat die OYAK im Laufe der Jahre ein weit verzweigtes Industrie-, Handels- und Dienstleistungsimperium aufgebaut. Heute ist die Holding an rund zwei Dutzend türkischen Unternehmen und Joint Ventures mit ausländischen Konzernen wie Goodyear und Renault beteiligt, darunter Autofabriken, Zementwerke, Bauunternehmen, ein Chemiekonzern, eine Versicherungsgesellschaft, Kreditinstitute, Handelsketten und ein Tankstellennetz. Über ihre Geschäftsergebnisse bewahrt die OYAK, in deren Führungsgremien überwiegend verdiente Ex-Generäle sitzen, weit gehendes Stillschweigen. Türkischen Presseberichten zufolge dürfte der Jahresumsatz der Holding jedoch mehr als zehn Milliarden Mark erreichen. Von Steuern und Abgaben ist die Militär-Firma weitgehend befreit. Die Gewinne fließen den Mitgliedern zu. Zur Pensionierung kann jeder türkische Offizier auf eine stattliche Bonus-Zahlung der OYAK rechnen, die ihm einen sorglosen Lebensabend sichert. Ohnehin gehören die Militärs zu den Privilegierten im Lande. Vom Alltagsleben ihrer Landsleute weitgehend abgeschirmt, wohnen die Offiziersfamilien zu günstigen Mieten in den OYAK-Appartments, kaufen zu Sonderpreisen in den nur für sie zugänglichen OYAK-Warenhäusern Lebensmittel und Luxusgüter, verbringen ihre Freizeit in den Offiziersklubs und ihren Urlaub in den OYAK-Feriendörfern - eine Kaste für sich. Das Selbstverständnis des türkischen Militärs ist geprägt von der Geschichte. Dazu gehören die traditionell enge Verflechtung von Armee und Staat im Osmanischen Reich und, vor allem, die entscheidende Rolle der Streitkräfte bei der Gründung der Republik. Damals war die Armee Träger des Fortschritts und der gesellschaftlichen Erneuerung. Das galt sogar noch für den Staatsstreich des Jahres 1960. Er bescherte dem Land die bis dahin und seither freiheitlichste Verfassung seiner Geschichte. Gleichzeitig aber markierte der damalige Coup den Wandel des Offizierscorps von einer progressiven Reformkraft zu einer Elite, die vor allem den Status quo bewahren will. Die von Atatürk verordnete strikte Trennung von Armee und Staat haben die selbsternannten Erben des Staatsgründers längst ins Gegenteil verkehrt. Begünstigt wurden die Machtambitionen der Generäle durch die erbitterten Rivalitäten der türkischen Parteiführer, die zu einer Lähmung des politischen Systems führten. Nie hatte das türkische Militär, ohne putschen zu müssen, so viel Einfluss auf die Politik des Landes wie heute. Weder seinen politischen noch den wirtschaftlichen Elitestatus wird das türkische Offizierscorps allerdings bewahren können, wenn es zu einer Annäherung des Landes an die EU kommt.
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