Die Welt, 30.11.1999 Ehrlichkeit für die Türkei Leitartikel von Nikolaus Blome In zehn Tagen verändern die Staats- und Regierungschefs den Charakter der Europäischen Union - und halten, was sie tun, doch bloß für eine Geste. In zehn Tagen steigt die Türkei zum offiziellen Kandidaten für einen EU-Beitritt auf, weil die Staats- und Regierungschefs vorgeben, nicht anders zu können - und zugleich hoffen, niemals haften zu müssen. Dieses Spiel ist ein Schande. Dahinter steckt ein Kalkül der Staats- und Regierungschefs, ungefähr so: Weil es nach 36 Jahren des Hinhaltens nicht mehr anders geht, ernennt die EU die Türkei jetzt zum Kandidaten für eine Aufnahme. Dann soll das Land zahlreiche Vorauflagen erfüllen, was sein wenig selbstsicheres System umwälzen, wenn nicht stürzen wird. Hat die Türkei, wider Erwarten, alle diese Punkte erfüllt, müssten eigentlich die konkreten Beitrittsverhandlungen beginnen. Aber, so endet das Kalkül, aber dann überkommt die Türkei die Einsicht, dass sie vielleicht doch nicht in die EU passt, die so viele Reformen in Gesellschaft, Denken, Politik und Wirtschaft verlangt hat und noch verlangen wird. Ja, und dann zieht sie ihren Antrag auf Beitritt zurück, bleibt ein verlässlicher Partner eben dieser EU, und alle leben glücklich bis an ihr Ende. Wirrer geht es kaum mehr. Einzig die allererste Prämisse hat noch Bodenhaftung: Tatsächlich haben die Europäer 1963 der Türkei den Beitritt zum Club des reichen Westens in Aussicht gestellt, wenn auch unter längst verflossenen Bedingungen und Motiven. Man steht also im Wort - aber musste mehr als 30 Jahre im Traum nicht daran denken, dafür auch einzustehen. Ob ehrlich oder geheuchelt, alle Reden von der offenen Tür Europas für die Türkei waren in dieser Zeit wohlfeil. Das Land blieb ja immer weit genug davon entfernt, an diese Tür auch nur klopfen zu können. Das ist nun anders. Die Türkei hat sich immerhin in einen politischen Stand entwickelt, der ihr das Recht gibt, die Frage nach dem Beitritt zur EU ernsthaft zu stellen. Verdient hätte sie eine ernsthafte Antwort. Was sie bekommt, ist Ausflucht. Zur Rechtfertigung der Kandidatenkür wird an erster Stelle angeführt, was an dramatischen Folgen drohe, wenn die Türkei wieder "leer" ausgehe. Doch ob die wirklich drohen, bleibt diffus. Nein, die Antwort, die der Partner Türkei verdient hätte, ist diese: Für das Land zwischen Asien und Europa ist die EU bereit, alles zu tun, bis auf eines - es aufzunehmen. Wenn die Türkei zum Westen gehören will, haben die Europäer die Pflicht und das Interesse, ihr auf diesem Kurs in jeder Weise zu helfen. Dieser Pflicht haben sie in der Vergangenheit auf mitunter erbärmliche Weise nicht genügt. Aber: Die EU nimmt kein Land auf, das die Union selbst im Kern verändert oder das die Union zuvor derart nach ihrem Abbild verändern müsste, das es nicht mehr ist, was es sein kann und sein will. Den ruinösen Träumen von Beitritt klar abzusagen, wurde vor fast genau zwei Jahren versucht, freilich halbherzig und ungeschickt. Beim Treffen der Staats- und Regierungschefs in Luxemburg kam es mangels Vorbereitung und Fingerspitzengefühls zu einem Eklat, der die türkisch-europäischen Beziehungen vereisen ließ. "Nie wieder Luxemburg" beherrscht nun alles Denken, in Brüssel und in den anderen Hauptstädten. Richtig, so wie in Luxemburg darf man die Türkei nicht wieder vor den Kopf stoßen. Aber warum wird sie stattdessen an der Nase herumgeführt? Wenn die Staats- und Regierungschefs die Türkei zum Beitrittskandidaten erklären, was soll das Land dann anderes denken als: Wenn wir als Kandidat gewünscht sind, sind wir also auch als Mitglied gewünscht. Welche Probleme oder Nutzen die Türkei als Mitglied der EU brächte, ist aber überhaupt nicht erwogen worden. Es wird in keinem Land der EU öffentlich darüber gestritten, wie entlarvend. Die Logik der meisten Mitgliedsstaaten und wahrscheinlich auch der meisten EU-Kommissare ist ja eine andere: Wir wünschen die Türkei als Kandidaten, ja, bitte schön - aber nur, damit sie erkennt, dass sie als Mitglied nicht passt. Es dürfte nicht lange dauern, bis die Türkei diesen Trick durchschaut, sich hintergangen fühlt - und womöglich abwendet. Dann hätte die EU morgen den Schaden, weil sie heute nicht ehrlich sein wollte, nicht mit sich selbst und nicht mit der Türkei.
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