Stuttgarter Nachrichten, 30.11.1999 ¸¸Deutschland profitiert von EU-Erweiterung'' Günter Verheugen Der EU-Kommissar (SPD) glaubt, dass die EU nach ihrer Ost-Erweiterung bis zu 13 neue Mitglieder umfassen kann. Ob die Türkei beitreten kann, hängt von ihrer Bereitschaft zu Demokratie und Menschenrechten ab. Herr Verheugen, vor zehn Jahren fiel der Eiserne Vorhang und damit die Trennung von West- und Osteuropa. Würden Sie einen Ausblick wagen, wie die Europäische Union in zehn Jahren aussieht? Ich glaube, in zehn Jahren werden die Verhandlungen mit den Kandidaten, mit denen wir jetzt im Gespräch sind, abgeschlossen sein. Die EU wird dann nicht mehr 15, sondern 27 Länder umfassen. Eher sogar noch mehr, falls bis dahin noch weitere Länder einen Aufnahmeantrag stellen sollten, aber das ist eher unwahrscheinlich. Welche neuen Länder werden als erste zum Kreis der 15 stoßen? Das Rennen ist noch ziemlich offen. Die Länder der ersten Gruppe, mit denen jetzt verhandelt wird, Polen, Ungarn, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern, haben gute Chancen, bei den Ersten zu sein. Aber auch in der zweiten Gruppe sind mit Litauen, Lettland, Malta, der Slowakei, Rumänien und Bulgarien Länder, die es relativ schnell schaffen können. Wir sind aber noch nicht so weit, dass wir heute schon einen genauen Terminplan festlegen könnten. Ich stelle mir vor, dass die Länder nicht einzeln, sondern in mehreren Wellen beitreten werden. Und die erste Welle sollte noch in der Amtszeit dieser Kommission, das heißt, bis Ende 2004, tatsächlich beitreten. Spätestens. Sie sprechen von ¸¸Wellen'' des Beitritts. Ihr Bild entspricht auch den Ängsten vieler Westeuropäer, von den Folgen der Erweiterung überflutet zu werden. Diese Ängste muss man ernst nehmen. Es reicht nicht, auf den Zugewinn an politischer Stabilität zu verweisen. Man muss ganz konkret auf die Fragen eingehen: Wie verhindern wir, dass unser Arbeitsmarkt belastet und die innere Sicherheit gefährdet wird, dass uns die Kosten für die Erweiterung über den Kopf wachsen? Ich will dazu mit großem Ernst eine Garantieerklärung abgeben: Es wird keine Beitritte geben, wenn nicht sichergestellt ist, dass die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen auf beiden Seiten beherrschbar sind. Ich sage ganz konkret: Wenn ein Import an Arbeitslosigkeit oder an Kriminalität zu befürchten wäre, würden wir keine Erweiterung machen. Was die Kosten der Erweiterung angeht, bin ich sicher, dass Deutschland in viel größerem Maße von der Erweiterung profitieren kann, als es finanziell belastet wird. Der heikelste Beitrittskandidat ist sicher die Türkei. Welche Perspektiven sehen Sie für die Türkei? Noch ist die Türkei kein Beitrittskandidat, aber wir wollen ihr beim EU-Gipfel in Helsinki diesen Status geben. Das heißt nicht, dass Beitrittsverhandlungen beginnen. Erst muss die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllen, also ein volldemokratisches Land werden und die Menschenrechte verwirklichen, Nachbarschaftskonflikte lösen und einiges mehr. Erst, wenn diese Bedingungen erfüllt sind und die Türkei praktisch ein anderes Land geworden sein wird, können Beitrittsverhandlungen beginnen. Versuchen Sie sich da nicht an der Wahrheit vorbeizumogeln, dass die Türkei wohl noch lange nicht beitreten kann? Nein. Es gibt da einen ganz großen Unterschied zur Politik der vorigen Bundesregierung, das ist die Beitrittspartnerschaft, die wir der Türkei anbieten. Wer glaubt, man könne das eines Tages wieder beenden, täuscht sich. Die Türkei wird Schritt für Schritt an Europa herangeführt. Ein solcher Prozess, wenn er erfolgreich ist, wird eine eigene Dynamik entwickeln, die nicht zu stoppen ist. Ist die Begnadigung von PKK-Chef Öcalan eine Voraussetzung für den Kandidatenstatus der Türkei? Der Fall Öcalan wird jetzt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte untersucht. Wir erwarten von der Türkei, dass sie das Todesurteil nicht vollstreckt. Die EU ist eine Gemeinschaft, die auf gleichen Werten beruht: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Diese Maßstäbe gelten auch für die Länder, die beitreten wollen. Fragen von Markus Günther, Brüssel
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