Die Welt, 2.12.99 Gebt der Türkei eine andere Chance Gastkommentar von Elmar Brok (Elmar Brok ist Europa-Abgeordneter der CDU in Straßburg) Bundesaußenminister Fischer verfolgt mit seinem Vorschlag, der Türkei den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu geben, durchaus einen richtigen Zweck, aber er bedient sich eines falschen Instruments und erreicht dadurch möglicherweise genau das Gegenteil. Richtig ist das Motiv, die Türkei mit Hilfe einer Beitrittsperspektive zu größeren Anstrengungen im Bereich der Beachtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit zu bewegen. Falsch aber ist es, ihnen den Kandidatenstatus zu verleihen, denn danach gibt es außer der Vollmitgliedschaft keine Steigerung mehr. Im Vorfeld der im Dezember zu treffenden Entscheidung stellt sich die Frage, ob sich in den zwei Jahren seit dem Luxemburger Gipfeltreffen, bei dem die europäischen Staats- und Regierungschefs feststellten, die Türkei sei vor allem im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit sowie die Achtung der Menschen- und Minderheitsrechte nicht geeignet für einen Beitritt, wirklich so viel geändert hat, dass dies eine neue Beurteilung der türkischen Beitrittsreife erlaubt. Die Kopenhagener Beitrittskriterien legen verbindlich fest, dass ein Beitrittsanwärter bestimmte Bedingungen erfüllen muss: demokratische Staatsform, Achtung der Menschenrechte, die Existenz einer wettbewerbsfähigen Marktwirtschaft sowie einen angemessenen Rechts- und Verwaltungsrahmen im öffentlichen und privaten Sektor. Die Türkei, deren strategische Bedeutung unbestritten ist, erfüllt derzeit keines dieser Kriterien. Gerade die Bereiche, in denen sie die größten Defizite aufweist - Achtung der Menschen- und Minderheitsrechte -, sind Bestandteile, über die sich nicht verhandeln lässt. Die Verleihung des Kandidatenstatus wäre ein strategischer Fehler, der die Beziehungen trüben könnte. Denn dass die Vollmitgliedschaft in einem überschaubaren Zeitraum unerreichbar ist, darin gibt es keinen Zweifel. Mithin könnte die Türkei, bei der ein Kandidatenstatus berechtigterweise Erwartungen auf eine Vollmitgliedschaft weckt, in wenigen Jahren frustrierter sein als bisher und dies zu ernsthafter Verstimmung führen. Viel mehr Sinn als die Verleihung des folglich substanzlosen Kandidatenstatus würde es machen, dass die EU endlich ihren Verpflichtungen aus dem Finanzprotokoll der Zollunion nachkommt und Hilfestellung beim Abbau demokratischer, administrativer und wirtschaftlicher Defizite in der Türkei leistet. Auch der Idee der Schaffung eines neuen Europäischen Wirtschaftsraums, für den außer der Türkei auch zum Beispiel die Ukraine in Frage käme, sollte erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Neben der Enttäuschung bei der Türkei und dem sicheren internationalen Glaubwürdigkeitsverlust müsste die EU aber auch mit großen Problemen im Hinblick auf andere Beitrittsanwärter rechnen. Wenn sie im Fall der Türkei sozusagen eine Ausnahme machte, so könnte sie anderen Bewerbern schwerlich die Aufnahme verweigern. Die EU würde dadurch letztlich zerstört. Bedauerlicherweise hat die Diskussion über den Kandidatenstatus für die Türkei eine andere, nunmehr unvermeidbare Diskussion angestoßen - die über die Grenzen Europas. Bisher war die Offenheit dieser Frage von Vorteil. Niemandem wird die Tür verschlossen. Jeder lebt in dem Bewusstsein, wenn er es denn wolle und die Bedingungen erfülle, könne er dem Club beitreten. Die psychologischen Vorteile einer solchen Politik liegen auf der Hand. Die EU muss sich nicht als geschlossene Gesellschaft geben, potenzielle Beitrittskandidaten können innenpolitisch die EU-Perspektive nutzen. Der geplante Kandidatenstatus der Türkei hätte aber als Konsequenz, dass die Türkei in zwei bis drei Jahren immer noch ohne Verhandlungen dasteht, mit weniger Hoffnung auf Mitgliedschaft. Eine wirklich ernsthafte Krise wäre programmiert. Washington hätte wegen falscher öffentlicher Ratschläge seinen Anteil daran. Gleichzeitig beklagen Länder wie die Ukraine - heute vielleicht das für die Europäische Union strategisch wichtigste Land -, aber auch Georgien, warum sie schlechter als die Türkei behandelt werden oder warum ihnen in der oben genannten Diskussion die europäische Perspektive genommen wird. Dies hätte dort verheerende Folgen, und das alles nun als Konsequenz von Fischers Politik: Kandidatenstatus als Druckmittel für Menschenrechte. Die geopolitische Bedeutung der Türkei und ihre Rolle als Verbündeter und Stabilitätsfaktor in der Region sind unbestritten. Die EU sollte alle geeigneten Schritte unternehmen, um dieses Land fest in der künftigen Architektur Europas einzubinden. Eine Mitgliedschaft in der EU ist dafür keine Conditio sine qua non. |