Die Welt, 3.12.99 Sprache und Integration Gastkommentar von Cem Özdemir Der reiseerfahrene Mensch kennt das Problem: Man steht vor dem Postschalter in Italien oder Portugal und weiß weder was Briefmarke heißt, noch wie man in Erfahrung bringt, welcher der bunten Sticker auf die Postkarte aufgeklebt werden muss. Was für Urlauber ein kleines Problem ist, kann für Einwanderer existenziell werden: Die Beherrschung der Sprache ist eine der Grundvoraussetzungen, um sich in dem Land, in dem man lebt, zurechtzufinden. Sprache ist die Voraussetzung, um seine Rechte in Anspruch zu nehmen, mit Behörden klarzukommen, Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben und sich in die Gesellschaft zu integrieren. Leider müssen wir feststellen, dass viele Migranten - auch nach langem Aufenthalt in der Bundesrepublik - nur schlecht Deutsch sprechen. Selbst viele der hier geborenen Kinder ausländischer Eltern haben große Sprachdefizite. Nicht erst im Zusammenhang mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechtes wird darum diskutiert, ob Ausländer und Ausländerinnen zum Besuch von Deutschkursen verpflichtet werden sollten. Vor allem aus Unionskreisen wird diese Forderung in letzter Zeit wieder verstärkt erhoben. Doch dieses Postulat greift zu kurz. Es ist einseitig an die Adresse der Ausländer gerichtet. Sollen die ihre Sprachkurse selbst organisieren? Die Kehrseite von der Idee verpflichtender Sprachkurse wäre die Forderung an staatliche Stellen, ausreichend Sprachkurse anzubieten - und vor allem zu finanzieren. Vor dieser entscheidenden Frage drückt sich leider auch Jürgen Rüttgers in seinem so genannten Integrationspapier. Zu Erinnerung: Die Regierung Kohl hatte die Dauer der Sprachkurse für Aussiedler aus Kostengründen gekürzt - obwohl die Sprachkenntnisse der Ankommenden immer schlechter wurden. Die Folge waren wachsende Integrationsschwierigkeiten der Menschen - vor allem der Jugendlichen -, die aus Russland, Polen und den GUS-Staaten zu uns gekommen sind. Schaut man sich die unionsgeführten Bundesländer an, wird deutlich, dass dort die Zahl der Deutschkurse nicht erhöht wird. Wer die Muttersprache nicht richtig beherrscht, tut sich schwer mit dem Erlernen einer Fremdsprache. Diese Feststellung ist unter Experten unbestritten. Trotzdem schränkt Baden-Württemberg die Mittel für muttersprachlichen Unterricht ein. Ministerpräsident Koch (CDU) in Hessen hat nach dem Regierungswechsel den muttersprachlichen Unterricht sogar ganz abgeschafft. Hier geht es nicht um Türkisch versus Deutsch, sondern um die Frage, wie Deutsch richtig gelernt werden kann. Freiwilliger muttersprachlicher Unterricht unter deutscher Schulaufsicht mit hier ausgebildeten Lehrkräften ist dabei ein wichtiges Instrument, auf das nicht verzichtet werden darf. Mit Einführung des neuen Staatsangehörigkeitsrechtes am 1. Januar 2000 brauchen wir ein ausreichendes Angebot an Sprach- und Integrationskursen für Migranten. Wer jedoch die Einführung von Sprachkursen fordert, muss sich auch klar darüber sein, dass man nicht einfach einen arbeitslosen Gymnasiallehrer ans Katheder stellen kann. Wir müssen ausführlich über Sprach- und Integrationskurse nachdenken und Erfahrungen anderer Länder berücksichtigen. Wir müssen überlegen, welche Rahmenpläne und Curricula eingeführt und wie beispielsweise mit dem Phänomen, dass ausgebildete Fachleute und Analphabeten in unser Land kommen, umzugehen ist. Wir müssen sicherstellen, dass auch die zuziehenden Familienangehörigen einbezogen werden. Gerade türkische Ehefrauen aus dem Herkunftsland haben oft keine Chance, Deutsch zu lernen und vererben so das Sprachproblem auf die nachfolgende Generation. Nachzudenken wäre auch darüber, ob es uns nicht um mehr geht als um Spracherwerb. Sollten wir nicht - ähnlich wie in den Niederlanden - zusätzlich einen Grundkurs "deutsche Gesellschaft" anbieten? Hier könnte eine Einführung in Themen wie westliche Grundwerte, das politische System, das Sozialversicherungssystem, das Schul- und Ausbildungssystem, Rechte und Pflichten, aber auch so alltägliche Fragen wie beispielsweise die Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs erfolgen. Neu zu regeln wäre auch die Frage des Zugangs zu Sprachkursen. So gibt es heute Kurse für Spätaussiedler, andere Kurse für Arbeitnehmer aus den ehemaligen Anwerbeländern. Bestimmte Ausländergruppen dürfen zum Teil überhaupt nicht an Sprachkursen teilnehmen. Transparent und logisch ist dieses System nicht. Die breite Diskussion um Sprachkurse für Migranten macht deutlich, dass inzwischen alle gesellschaftlichen Gruppen anerkennen, dass es sich bei Einwanderern um einen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft handelt. Und es ist unbestritten, dass Integration eine wichtige Aufgabe für alle ist: für Einwanderer und Einheimische. Auch wenn die Union die Konsequenzen von verpflichtenden Sprachkursen noch nicht vollständig durchdacht hat, so ist ihre Forderung doch ein Fortschritt gegenüber ihrer Politik der letzten Jahrzehnte. Bevor wir allerdings über Pflichtveranstaltungen reden, sollten wir nach Einführung eines Sprach- und Integrationskonzeptes erst einmal Erfahrungen sammeln. Vorerst halte ich das Anreizsystem für das effektivere Mittel. Niemand zwingt den Urlauber zu lernen, dass Briefmarke auf Italienisch "francobollo" und auf Portugiesisch "selo posta" heißt. Da es ihm aber das Leben ungemein erleichtert, tut er es dennoch. Barbara John, Ausländerbeauftragte in Berlin und CDU-Mitglied, hat vorgeschlagen, als Anreiz eine Arbeitsgenehmigung zu erteilen. Das halte ich für einen guten Weg. Cem Özdemir ist innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen |