nzz, 3.12.99 Einigkeit der türkischen Koalition im Fall Öcalan Abwarten des Entscheids aus Strassburg paz. Istanbul, 2. Dezember Die türkische Regierungskoalition hat sich laut Presseberichten auf ihr weiteres Vorgehen im Fall Öcalan geeinigt. So soll die Todesstrafe gegen den Kurdenführer ausgesetzt werden, bis ein Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg vorliegt. Der Gerichtshof hatte dies am Montag von Ankara verlangt. Die Regierungskoalition, in der die unterschiedlichen Auffassungen der Demokratischen Linkspartei (DSP) von Ministerpräsident Ecevit und der rechtsradikalen Nationalen Bewegung (MHP) zu Spannungen geführt hatten, trat kurz nach der Aufforderung aus Strassburg zu einer ausserordentlichen Sitzung zusammen. Obwohl die führenden Politiker seither keine klaren Stellungnahmen abgegeben haben, scheint die MHP von ihrem Bestreben, Öcalan so rasch als möglich hinzurichten, abgekommen und auf die Linie der DSP eingeschwenkt zu sein. Die Regierung mag aus innenpolitischen Erwägungen zwar keine formelle Garantie abgeben, den Strassburger Entscheid abzuwarten. Doch dem Menschenrechtsgerichtshof wird Zeit gelassen, den Fall Öcalan auf die lange Bank zu schieben. Die meisten türkischen Politiker befürchten, es könnte der Eindruck entstehen, sie beugten sich europäischem Druck. In einem Land, in dem jedem Bürger eine gehörige Portion Nationalstolz von Kindsbeinen an eingetrichtert wird, ist dies nicht verwunderlich. Gleichzeitig aber will die Türkei am EU-Gipfel in zwei Wochen in Helsinki den langersehnten Status als Beitrittskandidatin erhalten. Auch wenn es sich nur um eine symbolische Anerkennung der europäischen Bestimmung des Landes handelt, wäre dies für Ecevit und seine Koalition ein beachtenswerter Propagandasieg. Ein voreiliger Schritt in Richtung einer Vollstreckung des Urteils gegen Öcalan dürfte diese Hoffnungen jedoch zunichte machen. Die Warnungen aus europäischen Hauptstädten haben in Ankara ihre Wirkung getan. Schwierig ist zu beurteilen, wie weit innerhalb der MHP die Überzeugung gereift ist, dass es im nationalen Interesse des Landes liegt, Öcalan nicht zu hängen. Verschiedene Parteimitglieder, aber auch Politiker der oppositionellen Partei des Rechten Weges, setzen sich noch immer für die Exekutierung ein. Auch muss die MHP, die nicht zuletzt wegen ihrer harten Haltung gegenüber Öcalan bei den Parlamentswahlen im April zur zweitstärksten Partei wurde, ihre Anhänger im Auge behalten. So schreibt die Zeitung «Zaman», dass die MHP Öcalan nicht darum aufhängen wolle, weil sie reaktionär oder rachsüchtig sei, sondern weil sie eine im Volk weit verbreitete Meinung vertrete. |