taz, 7.12.1999 Kommentar Ein Recht auf Gnade Das deutsche Individualrecht auf Asyl wird in Europa keinen Bestand haben und durch die Genfer Flüchtlingskonvention ersetzt Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) hat das Asyl nach Art. 16 des Grundgesetzes (GG) radikal in Frage gestellt. Ein subjektives Recht auf Asylgewährung werde die EU nicht akzeptieren, sagte er nach dem EU-Sondergipfel im Oktober in Finnland. Orientierungspunkt für ein künftiges Europäisches Asylrecht sei vielmehr die Genfer Flüchtlingskonvention. Kritiker warfen Schily daraufhin vor, er wolle das Asylrecht in einen staatlichen Gnadenakt umwandeln. "Recht statt Gnade" forderte etwa die grüne Europaabgeordnete Claudia Roth (taz vom 19. 11.) und warnte vor einem "Rückfall in vorrechtsstaatliche Zustände". Tatsächlich untergräbt der Innenminister seine politische Glaubwürdigkeit, wenn er zur Freude der extremen Rechten die unwahre Behauptung aufstellt, nur drei Prozent der Flüchtlinge seien "asylwürdig" und der Rest "Wirtschaftsflüchtlinge". Im Hinblick auf das Grundgesetz verweist uns Schily jedoch auf eine bittere Erkenntnis. Art. 16 GG ist seit dem umstrittenen "Asylkompromiss" von 1993 nicht mehr, was es einst sein sollte: wirksamer Rechtsschutz für politisch Verfolgte. Daher kann ein Europäisches Asylrecht auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention neue Chancen eröffnen. Bei der Europäisierung des Asylrechts wird meist differenziert zwischen der Harmonisierung der Aufnahmeverfahren ("formelles Asylrecht") und der Entwicklung inhaltlicher Grundsätze für die Asylgewährung ("materielles Asylrecht"). Beide Prozesse sind unterschiedlich weit vorangekommen. Das formelle Asylrecht wurde bereits seit 1985 im Rahmen der Schengener Zusammenarbeit schrittweise angeglichen. Seit vier Jahren verfolgt die EU eine einheitliche Visapolitik. Das 1997 in Kraft gesetzte Dubliner Übereinkommen soll nunmehr sicherstellen, dass jedem Flüchtling in Europa ein (einziges) Asylverfahren in dem dafür zuständigen Vertragsstaat offen steht. Dazu wird derzeit die Zentralstelle Eurodac aufgebaut, die alle Asylbewerber in Europa mit Hilfe kriminaltechnischer Methoden (z. B. Fingerabdrücke) registriert, um so Mehrfachanträge zu verhindern. Obwohl das individuelle Asylbegehren weiterhin nach nationalstaatlichem Recht geprüft wird, ist die Flüchtlingsaufnahme bereits heute europäisch geregelt. Im Bereich des materiellen Asylrechts haben nationale Souveränitätsvorbehalte die Diskussion lange blockiert. Mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrags in diesem Jahr ist jedoch eine neue Situation entstanden. Die Vertragsreform integrierte den Schengener Besitzstand in die EU. Viele Fragen der Zusammenarbeit bei Inneres und Justiz sind dadurch jetzt Gegenstand der EU-Entscheidungsverfahren unter Einbeziehung von Kommission, Rat und Parlament. Das Asylrecht bleibt vorläufig Teil der so genannten dritten Säule der EU. Dies bedeutet, dass die Mitgliedstaaten neue Regelungen vorschlagen dürfen und darüber einstimmig beschließen müssen. Der Vertrag sieht allerdings vor, dass dieses Initiativrecht nach fünf Jahren entfällt und anschließend im Rat nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden kann. Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich auf diese Weise selber unter politischen Zugzwang gesetzt. Wenn bis zum Jahr 2004 keine Einigung über ein einheitliches Asylrecht erzielt ist, droht ihnen die Kontrolle über das Entscheidungsverfahren zu entgleiten, zugunsten von Kommission und Parlament. Innenminister Schily und seine europäischen Amtskollegen haben also ein Interesse, die Verhandlungen auch im Hinblick auf das materielle Asylrecht voranzutreiben. Die politische Herausforderung ist beachtlich. Sie stellt sich nicht nur für Deutschland und die übrigen 14 EU-Mitgliedstaaten, sondern auch für die Schengen-Länder Norwegen und Island. Jeder einzelne dieser 17 Staaten geht von einer demokratisch legitimierten und aus nationaler Sicht verteidigungswürdigen Asylpolitik aus. Deutschland ist zunächst nicht mehr als ein Vorbild unter vielen und ein eigentümliches zudem. Die Bundesrepublik gestaltete 1949 das Asylrecht als einklagbaren Rechtsanspruch mit Verfassungsrang aus. Damit sollte seinerzeit vor allem jenen Menschen Zuflucht geboten werden, die einem Verbrecherregime wie dem nationalsozialistischen unter Hitler zu entkommen suchten. Art. 16 GG war eine Verfassungsneuheit. Alle anderen westlichen Demokratien orientierten sich weiterhin am herrschenden Völkerrecht, wonach Asyl nicht auf Grund eines subjektiven Rechts beansprucht, sondern im Ermessen des Staates gewährt werden kann. In Europa ist Asyl als staatliches Gnadenrecht bis heute der Regelfall, das Individualrecht deutscher Prägung dagegen der Ausnahmefall. Wir können also nicht erwarten, dass Europa Art. 16 GG zum natürlichen Maßstab eines Europäischen Asylrechts macht. Das Asylrecht steht für eine wichtige Errungenschaft der deutschen Nachkriegsdemokratie, die lange Zeit eine vergleichsweise liberale Flüchtlingsaufnahme ermöglichte. Doch wie viel Schutz bietet der Art. 16 GG heute wirklich noch? Seit der Verfassungsänderung 1993 wird dem Großteil der Flüchtlinge verwehrt, den Grundrechtsanspruch auf materielle Prüfung des Asylbegehrens überhaupt geltend zu machen. Ihre Anträge werden automatisch als "offensichtlich unbegründet" zurückgewiesen, weil die Einreise über einen - politisch definierten - sicheren Drittstaat erfolgte. Entsprechend geht seit 1993 die Zahl der Asylanträge zurück, von rund 323.000 auf 99.000 im vergangenen Jahr. 1998 kamen in Deutschland zwölf Asylanträge auf 10.000 Einwohner. Dies entspricht im Vergleich der EU-Länder (plus der Schengen-Staaten Norwegen und Island) nur Platz sieben, hinter Irland (13), Schweden (15), Österreich (17), Norwegen (19), Belgien (22) und den Niederlanden (29). Die Anerkennungsquote lag 1998 laut UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR in Deutschland bei 9,4 Prozent, im europäischen Durchschnitt dagegen bei 28,2 Prozent. Nur Österreich gab weniger Flüchtlingen Bleiberecht (5,3 Prozent), dafür nahmen die Niederlande mit rund 15.100 sogar absolut mehr Flüchtlinge auf als Deutschland (13.900). Das übrige Europa erweist mehr Gnade, als Deutschland Recht gibt. Die Flüchtlingsstatistik illustriert den weitgehenden Substanzverlust des Verfassungsrechts auf Asyl. Vollends deutlich wird dies mit Blick auf die Zählweise anerkannter Flüchtlinge. Anders als Schily (drei Prozent) bezieht der UNHCR (9,4 Prozent) auch die Flüchtlinge im so genannten "kleinen Asyl" ein, das heißt nach Art. 16 GG abgelehnte Asylbewerber mit Bleiberecht auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) von 1951. Deutschland garantiert als Unterzeichner der Genfer Konvention jedem Flüchtling Schutz vor Abschiebung, soweit "sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde" (ARt. 33 GK). Der Rechtsanspruch aus Art. 33 GK kann und wird in Deutschland ebenso eingeklagt und gerichtlich anerkannt wie derjenige aus Art. 16 GG. Zugleich ist die Genfer Konvention Ursache der wiederkehrenden Altfallregelungen, die in der aktuellen Runde zirka 20.000 Flüchtlingen trotz negativer Asylbescheide ein Bleiberecht geben wird. Anders ausgedrückt: Deutschland erkennt über Nacht die gleiche Zahl von Flüchtlingen nach Art. 33 GK an wie in rund fünf Jahren nach Art. 16 GG - das ist die deutsche Variante des staatlichen Gnadenasyls. Das Völkerrecht hat mit der Genfer Flüchtlingskonvention gewissermaßen ein Recht auf Gnade geschaffen. Dieses Recht auf Gnade sichert inzwischen weit mehr Flüchtlingen die Aufnahme in Deutschland als das gnadenlose Recht des Grundgesetzes. Die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Konvention im Rahmen eines Europäischen Asylrechts wäre daher ein Fortschritt. Sie würde zudem die Voraussetzung schaffen, den Status des "kleinen Asyls" zu stärken. Viele Flüchtlinge erhielten dadurch schneller und unabhängig von der Gnade des Altfalls eine gesicherte Lebensperspektive. Innenminister Schily hat ein klares Bekenntnis zur Genfer Flüchtlingskonvention abgegeben. Darin liegt ein größeres Potenzial zur Verbesserung des Asylrechts als in der Verteidigung eines Verfassungsartikels, der leider längst nicht mehr hält, was er einst versprach. Carsten Schymik
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