Saarbrücker Zeitung, 7.12.1999 Der Ruf "Öcalan muss hängen" ist merklich leiser geworden Vor dem Helsinki-Gipfel will die Türkei guten Willen beweisen, ohne vor dem heimischen Publikum das Gesicht zu verlieren - Von SUSANNE GÜSTEN, Istanbul - So hatte sich die Führung der rechtsradikalen türkischen Regierungspartei MHP den Kontakt zur Wählerschaft nicht vorgestellt: Nachdem ein führender Funktionär der Partei öffentlich erklärte, die Türkei solle aus Rücksicht auf Europa auf die Hinrichtung von PKK-Chef Abdullah Öcalan verzichten, bekam die Partei den Zorn ihrer Basis zu spüren. In Anrufen und Faxen beschwerten sich besonders Verbände von Opfern der PKK-Gewalttaten über den Schwenk in der Haltung der MHP, die ihren Stimmenzuwachs bei der Wahl vom April nicht zuletzt ihren lautstarken Forderungen nach der Exekution des Rebellenchefs verdankte. Überrascht über die Kritik vollzog die Partei darauf die Wende der Wende und erklärte etwas kleinlaut, Öcalan müsse natürlich hingerichtet werden. In der Türkei hat nicht nur die MHP vor dem EU-Gipfel am Freitag und Samstag in Helsinki ihre Schwierigkeiten, innen- und außenpolitische Wirkung hübsch auseinander zu halten. In Helsinki will Ankara von der Europäischen Union formell als Beitrittskandidat anerkannt werden - und kaum jemand, der im türkischen Machtgefüge eine wichtige Position innehat, möchte die Erfolgsaussichten der Türkei zunichte machen, indem er die EU jetzt brüskiert. Doch weil sie jahrelang mit Hassparolen gegen die PKK und seit einiger Zeit auch mit demonstrativer Distanz zu Europa auf Stimmenfang gegangen sind, haben die Politiker jetzt ein Problem: Wenn sie zur Stärkung der türkischen Position vor dem Helsinki-Gipfel unmissverständliche Versöhnungssignale an die EU senden wollen, müssen sie befürchten, vor dem heimischen Publikum das Gesicht zu verlieren. Auch der als Europa-Skeptiker bekannte linksnationalistische Ministerpräsident Bülent Ecevit kennt dieses Dilemma. In Interviews verweist er zurzeit auffällig häufig auf die von seiner Regierung seit April in Angriff genommenen Reformen im Menschenrechtsbereich, ebenfalls ein sensibles Thema für die EU. Auch beim Thema Öcalan macht Ecevit indirekt deutlich, dass die EU sich auf seine Regierung verlassen kann. Man könne nicht für die Todesstrafe sein und gleichzeitig in die Europäische Union wollen, sagte er am Wochenende. Und selbst diese harmlos klingende Aussage kann sich in der Türkei fast nur Ecevit leisten, dem innenpolitisch dabei zwei Dinge zugute kommen: Erstens ist er persönlich schon seit langem als Gegner der Todesstrafe bekannt, weshalb ihm das laute Nachdenken über einen Verzicht auf eine Hinrichtung Öcalans nicht als Anbiederung an Europa ausgelegt wird. Zweitens ist er über jeden Verdacht der Nachgiebigkeit der PKK gegenüber erhaben, weil er es war, der im Frühjahr als Premier für die Festnahme Öcalans sorgte. "Es gibt niemanden mehr, der ,Aufhängen' sagt", stellte die Zeitung "Sabah" vor einigen Tagen fest: Das Interesse des Landes an einer Zukunft in Europa ist wichtiger als Öcalans Hinrichtung, lautet das Credo von Politikern fast aller Parteien - auch wenn sie es nicht so deutlich sagen können. Den kühnsten Spagat zwischen außen- und innenpolitischer Haltung schaffte wieder einmal die Partei des Rechten Weges der früheren Ministerpräsidentin Tansu Ciller: Die Türkei solle Öcalan noch eine Woche leben lassen, um sich in Helsinki den Kandidatenstatus abzuholen, und den PKK-Chef dann trotzdem aufhängen, schlug sie vor. Da solche Ideen kaum Werbung für die Europatauglichkeit der Türkei sind, wünscht sich der Leitartikler Güngör Mengi um die Zukunft seines Landes willen vor allem eines: Die Politiker sollen zumindest bis zum Helsinki-Gipfel einfach "die Klappe halten".
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