Neue Zricher Zeitung, 7.12.1999 Der Fall Öcalan teilt die türkischen Nationalisten Die Parteibasis gegen den gemässigten Kurs ihrer Führung Innerhalb der türkischen rechtsradikalen Nationalen Bewegung (MHP) schwelt ein Streit. Verschiedene Vertreter der Koalitionspartei setzen sich offen für eine baldige Exekution des zum Tode verurteilten PKK-Führers, Abdullah Öcalan, ein und stellen sich somit gegen die Parteileitung, die laut Presseberichten auf eine gemässigtere Linie eingeschwenkt ist. paz. Istanbul, 6. Dezember Nachdem in der vergangenen Woche verschiedene türkische Zeitungen gemeldet hatten, die Regierungskoalition um Premierminister Ecevit habe sich darauf geeinigt, das Todesurteil gegen den Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK so lange aufzuschieben, bis der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg über eine entsprechende Klage entschieden hat, ist das Bild am Montag bereits wieder komplizierter geworden. Ecevit selber erklärte am Wochenende, es sei ein Widerspruch, wenn die Türkei den Status eines Kandidaten für die Europäische Union beanspruche und gleichzeitig nicht willens sei, die Todesstrafe abzuschaffen. Damit sprach er sich zum wiederholten Male für die Abschaffung der Todesstrafe aus. Widersprüchliche Signale der MHP Am Fall Öcalan spaltet sich vor allem die rechtsradikale Nationale Bewegung (MHP), die zweitstärkste Kraft in der Dreiparteienkoalition. Sie hatte ihre gute Position bei den Wahlen im April nicht zuletzt dank ihrer kompromisslosen Haltung gegenüber der PKK und ihrem Führer erreicht. In der letzten Zeit hatten die Regierungsvertreter der MHP aber verschiedentlich Signale ausgesandt, dass sie auf die Linie von Ecevits Demokratischer Linkspartei (DSP) eingeschwenkt seien und eine Parlamentsabstimmung über die Durchführung der Todesstrafe gegen Öcalan so lange hinausschieben wollten, bis Strassburg einen Entscheid gefällt habe. Die Aussagen mehrerer Vertreter der Partei während des Wochenendes deuten nun aber wieder in die gegenteilige Richtung. Während der Pressesprecher der MHP sagte, er würde, ohne zu zögern, für Öcalans Hinrichtung stimmen, forderte ein MHP-Abgeordneter gar eine sofortige Parlamentsabstimmung. Nach Ansicht des stellvertretenden Vorsitzenden der Partei, Sefkat Cetin, würde die Türkei von einer möglichst raschen Ausführung des Gerichtsentscheids profitieren. Es scheint, dass der Druck von seiten der Wählerschaft in den letzten Tagen enorm gross geworden ist, denn nach Zeitungsberichten wurde die Partei von verärgerten Telefonaten und Faxen geradezu überschwemmt. Diese richteten sich gegen den Gesinnungswandel der Parteiführung und widersprachen der Argumentation, dass es im Interesse des Landes sei, Öcalan nicht hinzurichten. Die Koalition in Gefahr? Damit sind wieder Tür und Tor offen für Spekulationen über eine mögliche Spaltung der Regierungskoalition. Kurzfristig wird Ecevit nun wohl versuchen, das leidige Thema bis nach dem Entscheid der EU-Regierungschefs über den Kandidatenstatus der Türkei Ende der Woche möglichst in den Hintergrund zu drängen. Gelingt ihm dies nicht, so wird der Helsinki-Gipfel zu einer noch grösseren Zitterpartie für Ankara. So oder so müssen sich die Politiker aller Couleur längerfristig aber entscheiden, ob ihnen eine Annäherung an Europa und internationale Verpflichtungen oder populistische Stimmungsmache wichtiger sind.
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