Stuttgarter Nachrichten, 7.12.1999

Die türkische Last

VON WOLFGANG MOLITOR

Zwischen der Europäischen Union und der Türkei herrscht Tauwetter. Vor wenigen Wochen reiste mit Ismael Cem erstmals wieder ein türkischer Chef-Diplomat zu einem EU-Außenministertreffen, nachdem Brüssel vor zwei Jahren Ankara den Status als Beitrittskandidat brüsk verweigert hatte. Nach den Jahren der Eiszeit und vieler Missverständnisse scheint in der EU nun die Meinung des deutschen Außenministers Joschka Fischer mehrheitsfähig zu sein, Ankara wirtschaftlich wie politisch stärker in die Union zu integrieren. Die EU weiß: Ankara braucht ein starkes Signal aus Europa, um außen- und innenpolitisch die Entwicklung zu mehr demokratischer Transparenz und eine unumkehrbare Verbessserung der Menschenrechte durchsetzen zu können. ¸¸Uns ist klar, dass es sich bei der Türkei um einen Nachbarn handelt, an dessen Isolierung niemand ein Interesse haben kann'', sagt Fischer. Und so soll Ankara nach jahrzehntelangem Warten jetzt auf dem EU-Gipfel von Helsinki - als erstes islamisches Land - in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen werden. Das ist mehr, als die Türkei nach dem tiefen Zerwürfnis mit dem ¸¸christlichen Club'' in Brüssel unlängst zu erhoffen wagte. Aber es ist noch keine Garantie, dass Ankara in absehbarer Zeit seinen Platz in Europa finden wird.

Die EU-Strategie ist nachvollziehbar. Denn es sind nicht allein Menschenrechtsfragen und Demokratiedefizite, die einer mittelfristigen EU-Aufnahme der Türkei im Weg stehen - zumal diese Hürden politisch übersprungen werden können, wie ein hoffnungsvoller Satz des türkischen Staatsministers Irtemcelik vermuten lässt: ¸¸Wenn wir die Todesstrafe abschaffen würden, könnten wir vor Helsinki einen großen Nachteil beseitigen.'' Nein, es ist vor allem eine andere, politisch kaum zu steuernde Entwicklung, die einer EU-Aufnahme Ankaras langfristig im Weg steht: der demographische Faktor.

Fakt ist, dass die ¸¸Verdoppelungszeit'' der türkischen Bevölkerung zurzeit 46 Jahre beträgt (und damit dem Durchschnitt für Gesamtasien entspricht). Sie dürfte sich im Jahr 2046 von jetzt 66 Millionen auf 132 Millionen Menschen verdoppelt haben. Selbst wenn man vorsichtigere Projektionen heranzieht, wächst die Türkei auf 88 Millionen Menschen im Jahr 2020 und auf 100 Millionen im Jahr 2050. Schon die derzeitige Bevölkerung ist ¸¸überjüngt'': 31 Prozent der Türken sind jünger als 15 Jahre, nur fünf Prozent sind älter als 65. Bei dem prognostizierten Bevölkerungswachstum wird sich der Anteil der Personen unter 15 Jahren weiter spürbar erhöhen - und damit das Problem, diesen jungen Menschen Bildung und Arbeit, Perspektiven und Selbstwertgefühl zu verschaffen. Um es deutlich zu sagen: Sanliurfa an der syrischen Grenze wird niemals eine europäische Stadt.

Die Zahl der Analphabeten liegt in der Türkei zurzeit bei acht Prozent bei den Männern und Jungen. Bei den Frauen und Mädchen über 15 Jahren sind es sogar 26 Prozent. Moderne Familienplanungsmethoden werden nur von 38 Prozent der türkischen Frauen angewendet, bedeutend weniger als in Ägypten (52 Prozent) und Algerien (43 Prozent). Hinzu kommt das Gefälle in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Das Bruttosozialprodukt der Türkei von 3140 US-Dollar pro Einwohner entspricht etwa dem von Panama (3080) und liegt unter dem von Mexiko (3700) oder Botswana (3310). Zum Vergleich einige EU-Staaten: Deutschland 28280 Dollar, Dänemark 34890 Dollar und Norwegen 36100 Dollar.

Aus all diesen Gründen ist ein hoher Wanderungsdruck zu erwarten, der - unterstützt durch eine garantierte EU-Freizügigkeit - vor allem nach Deutschland gelenkt werden dürfte, wohnen doch hier bereits über zwei Millionen türkische Staatsangehörige. Die Folgen eines türkischen EU-Beitritts lassen sich daher von deutschen Interessen nicht trennen. Die deutsche Politik muss deshalb - bevor sie ernsthaft für einen Beitritt optiert - erst sagen, wie sie diese sozioökonomischen Kosten und Konflikte einschätzt und wer sie bezahlen und bewältigen soll.