Badische Zeitung, 8.12.1999 BZ-Interview mit Soli Özel über die Türkei und die EU "Weniger Heuchelei" FREIBURG. Die Türkei als Beitrittskandidat für die Europäische Union - beim EU-Gipfel am Ende der Woche in Helsinki könnte dies Wirklichkeit werden. Noch vor zwei Jahren beim Treffen in Luxemburg hat die EU den Antrag abgelehnt, Verstimmungen waren die Folge. Mit Soli Özel, Politologe an der Bilgi Universität in Istanbul, sprach Michael Neubauer über die veränderte Haltung der EU. BZ: Herr Özel, sehen Sie die Türkei schon mit einem Kandidatenstatus versehen? Soli Özel: Ich denke, dass die EU Ja sagen wird. Aber es ist für sie eine Gratwanderung: Zum einen muss sie Griechenland berücksichtigen, zum anderen will sie die Türkei nicht wieder verärgern. Doch die EU kann es sich nicht mehr leisten, wegen Griechenland das Verhältnis zur Türkei noch einmal so stark zu stören wie 1997. Als damals die EU Nein zu einem Kandidatenstatus sagte, brach die Türkei den Dialog ab. Die Demokratisierung in der Türkei verlangsamte sich immens. Bundeskanzler Kohls Äußerungen über die Unvereinbarkeit der christlichen und muslimischen Kulturen waren nicht vorteilhaft, sie verfestigten in der Türkei das Bild von der EU als Christenclub. BZ: Wo sehen Sie die Gründe für die Meinungsänderung der EU? Özel: Von großer Hilfe war für die Türkei der Regierungswechsel in Deutschland. Schröders türkenfreundliche Haltung hat das Ansehen unseres Landes in der EU verbessert. Aber auch der Krieg im Kosovo hat die Einstellungen vieler Politiker im Westen verändert: Sie haben gemerkt, dass man den Balkan nicht hinwegwünschen kann und dass die Türkei wichtig ist für eine stabile europäische Architektur. BZ: Ist die türkeifreundliche Haltung der deutschen Regierung glaubwürdig? Özel: Ja. Die Koalition betrachtet unser Land mit anderen Augen als noch die Regierung Kohl: Zum einen diskriminiert sie die Türkei nicht mit religiösen Argumenten. Zum anderen ist ihre Vorstellung von Europa von Vielfalt und Multikultur geprägt. Auch in der Sicherheitspolitik scheint mir die rot-grüne Koalition differenzierter auf die Türkei zu schauen. Die Panzerlieferung etwa ist eine symbolische Geste, die der Türkei Vertrauen entgegenbringt. Mir scheint, dieses Mal wird weniger geheuchelt. BZ: Was würde sich nach einem Ja in der türkischen Politik verändern? Özel: Es würde vor allem weitere Bewegung in das griechisch-türkische Verhältnis kommen. Außenminister Papandreou hat bereits von einem Türkei-Besuch gesprochen. Die intellektuellen, wirtschaftlichen und politischen Bewegungen in der Türkei, die eine Demokratisierung im Land wünschen, würden in ihrer Arbeit unterstützt werden. BZ: Was ist, wenn die Türkei erneut eine Absage bekommt? Özel: Ich hoffe, dass das nicht geschieht. Die Enttäuschung in der Türkei über die Zurückweisung würde schlimmer sein als noch vor zwei Jahren. Die Türkei würde den Glauben an Europa verlieren, demokratische Reformen im Land Schaden erleiden.
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