taz, 8.12.1999

Kommentar

Ein Land in Europa

Auf dem bevorstehenden Gipfel in Helsinki sollte die Türkei als Kandidat für die EU akzeptiert werden. Nur so lassen sich die reaktionären und islamistischen Kräfte im Land bezwingen

Diplomatische Beziehungen, deren Qualität vom Tagesgeschehen abhängt, sind in der Regel weder vertrauensvoll noch stabil. Sie unterliegen der Eigendynamik der politischen Abläufe, ohne ein "Auffangnetz" für das Meistern von gemeinsamen Krisen zu haben. Das Verhältnis zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei war in den letzten Jahren ein gutes Beispiel für die Schwierigkeiten, die ein solches Verhältnis mit sich bringt: Mal erhitzten sich die Gemüter an der Zypern-Frage, mal machte ein Militärputsch eine Vertrauensfindung der Türkei gegenüber unmöglich. Dann wiederum schlug die Türkei alle Aufforderungen zu einer politischen Lösung der Kurdenfrage in den Wind, ebenso wie die Forderung nach der Einhaltung der Menschenrechte und der Abschaffung der Folter.

Damit sind alle Hindernisse zur Normalisierung des Verhältnisses der EU zur Türkei aufgezählt: die Einhaltung der Menschenrechte im Zusammenhang zum Verhältnis Staat - demokratische Opposition; die instabile Demokratie in der Türkei und der für einen Rechtsstaat unverhältnismäßig große Einfluss der Armee; der auf militärische Mittel reduzierte Ansatz im Konflikt um Kurdistan; und zuletzt der "Fall Zypern" und die damit verbundene Belastung der Beziehungen zum EU-Mitglied Griechenland.

Dabei ist eine freundschaftliche Beziehung zwischen der Europäischen Union und der Türkei für beide Seiten von immenser Bedeutung. Die EU muss ein genauso großes Interesse an der europäischen Integration der Türkei haben wie dieser Staat selbst. Und dabei kann es langfristig nicht um weniger gehen als um die volle Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Die EU braucht einen verlässlichen Partner im äußeren Südosten des Kontinents, das ist unbestritten. Der Union kann es dabei genauso wenig nur um die strategische Wichtigkeit der geografischen Lage der Türkei gehen wie um die ökonomischen Vorteile, die sie daraus ziehen kann. Die Europäische Union muss ihre eigene Glaubwürdigkeit bewahren. Wird der Türkei keine Perspektive zum Beitritt in die EU angeboten, dann wird die kritische Frage aufkommen, ob die EU nicht "ein Christenclub" bleiben wolle. Außerdem wäre die "Osterweiterung" der EU moralisch in Frage gestellt. Schließlich verlangte Ankara bereits mitten im Kalten Krieg - wenn auch nur sporadisch - die Aufnahme in die Europäische Gemeinschaft. Am Bosporus sieht man nun verärgert zu, wie Beitrittsverhandlungen mit Staaten wie Ungarn und Tschechien geführt werden, die ja eigentlich "in der Schlange hinter der Türkei stehen" müssten.

Auch für die Entspannung des Zypern-Konflikts wäre es nicht dienlich, der Türkei keine Beitrittsperspektive zu geben. Darüber hinaus dürfen die Auswirkungen, die der Beitritt der Türkei auf die Innenpolitik anderer EU-Länder haben könnte, nicht unterschätzt werden. Wird die Türkei in die Europäische Union aufgenommen, ist der Integration der größten Migrantengruppe ein großer Gefallen getan. Für sie wäre dies ein Zeichen, dass sie in Europa - und damit auch in Deutschland - willkommen wären. Und dies nicht als Gäste, sondern als Mitbürgerinnen und Mitbürger. Die Einheimischen wiederum werden sich dem Thema Türkei anders nähern - und zwar nicht mit dem Blick auf das "Reich in Kleinasien", sondern auf das "Land in Europa". Die Einstellungen der Menschen werden sich ändern, weil sie sich im selben Verbund befinden, "im selben Haus". Denn erst durch Kommunikation aus der Nähe kann man Vorurteile überwinden.

Auch der Islam würde nicht mehr als etwas Fremdes und Unüberschaubares gelten, sondern als eine Selbstverständlichkeit unseres gesellschaftlichen Alltags, was wiederum auf die Integration anderer Migrantengruppen positiv wirkte. Die vorhandenen gemeinsamen Probleme der inneren Sicherheit wie der organisierten Kriminalität oder des Terrorismus könnten gemeinsam, auf rechtsstaatlicher und europäischer Ebene angegangen werden. Und noch mehr: Wird der Türkei in Helsinki der Kandidatenstatus gewährt, wäre das Tor zur friedlichen Regelung des Kurdistan-Konfliktes weit aufgestoßen. Dies wiederum bedeutete das Ende der Unruhen, die kurdische Oppositionelle in Europa, speziell in Deutschland, ausgelöst haben und noch immer in der Lage sind auszulösen.

Der politische und gesellschaftliche Alltag in der Türkei wird von einer großen Zerrissenheit bestimmt. Die "Westintegration", von Kemal Atatürk vor 80 Jahren eingeleitet, ist noch immer mehr als umstritten. Die "Traditionalisten", die in allen gesellschaftlichen und politischen Bereichen zurück zu den orientalischen und vor allem islamischen Wurzeln und des Landes zurückkehren möchten, sind keine kleine Gruppe. Die Wahlerfolge der wohl als islamistisch einzustufenden Wohlfahrtspartei (RP) Erbakans sind hierfür in den letzten Jahren nicht der einzige Beleg. Sollten die Traditionalisten die Meinungsherrschaft im kleinasiatischen Staat erobern, gibt es zwei mögliche Konsequenzen: entweder der gesellschaftliche Rückfall der Türkei in die prä-kemalistische Ära der Osmanen, möglicherweise sogar in einen Gottesstaat - oder die harte Hand der reaktionären Kräfte im Lande in Form eines Militärputsches im Stil der Achtzigerjahre. Dies würde für mindestens eine Dekade das Ende jeglicher Demokratisierungsbestrebungen in der Türkei bedeuten.Um sich aus der Zwickmühle zwischen rückwärtsgewandten und reaktionären Kräften herauszumanövrieren, braucht die Türkei die Unterstützung der Europäischen Union. Eine intakte Zusammenarbeit mit der EU stellt der türkischen Bevölkerung bessere wirtschaftliche Lebensbedingungen in Aussicht. Der Wohlstand würde den Traditionalisten den Wind aus den Segeln nehmen, die eine europäische Integration der Türkei mit dem Argument der kulturellen und ökonomischen Ausbeutung des Landes durch den Westen ablehnen.

Gleichzeitig würde die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union einen Wandel der gesellschaftlichen und politischen Bereiche innerhalb des Landes mit sich bringen müssen, denn ohne eine Veränderung des Umgangs mit den Menschenrechten kann und wird die Türkei nicht in die EU aufgenommen werden. Jede Ablehnung der EU stärkt die Orientalisten in der Türkei. Die Perspektive einer Aufnahme in die EU jedoch stärkt die demokratische Opposition, der von der reaktionären Seite mehr Spielraum gewährt werden wird, um die nun greifbare, wirtschaftlich und sozial lebenswichtige Aufnahme in die EU nicht zu gefährden.

Ist die Türkei nicht ein "ganz normales Land" Europas? Der Prozess der europäischen Integration darf dadurch nicht "verstolpert" werden, dass einem Land aus nicht plausiblen Gründen eine Aufnahme in die EU verweigert wird. Selbstverständlich ist die Einhaltung der Menschen-, Grund- und Minderheitenrechte die Prämisse aller Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Allerdings wird erst durch das Signal einer von der Europäischen Union wirklich erwünschten Aufnahme der Demokratisierung in der Türkei eine neue Chance gewährt. Ein Prozess, dessen Notwendigkeit innerhalb der politischen Elite der Türkei erst begriffen werden muss. Die Perspektive der EU-Aufnahme wird diesem Vorgang entscheidend nachhelfen können.

Eines bleibt noch anzumerken: Die wirkliche Relevanz der Qualität von diplomatischen Beziehungen kann angezweifelt werden, wenn, wie so oft, die Bevölkerung eines Landes die Politik und ihre festen Strukturen überholt. Die Erdbeben in Südosteuropa haben Emotionen hervorgebracht, die über strategische Überlegungen längst hinausgingen. Nicht nur "alte Feinde", Griechen und Türken, teilten ihr gemeinsames Leid, ganz Europa bekundete Mitgefühl und leistete Hilfe, wo es nur ging. Die Reaktionen auf die Katastrophe haben eindeutig gezeigt, dass die Türkei in den Köpfen und Herzen der Menschen als ein Mitglied der europäischen Gesellschaft längst akzeptiert ist und dass der Politik in Europa nichts anderes übrig bleibt, als der Türkei mit der Gewährung des Kandidatenstatus für die EU die Chance zu geben, ein vollwertiges Mitglied und ein gleichberechtigter Partner in Europa zu sein. Mit allen dazugehörigen Rechten und Pflichten.

Ozan Ceyhun