Tagesspiegel, 9.12.1999

Kommentar

Spätestens mit dem Gipfel beginnt die Diskussion über die endgültige Form der EU

Albrecht Meier

15 plus 6 plus 6 plus eins - das ist die Formel für das Arbeitsessen europäischer Staats- und Regierungschefs am kommenden Samstag, das den krönenden Abschluss des EU-Gipfels in Helsinki darstellen soll. Das Treffen zum Ende der finnischenEU-Ratspräsidentschaft steht im Zeichen der bevorstehenden Erweiterung der Europäischen Union, die nach außen hin durch den Teilnehmerkreis beim Abschluss-Essen in Helsinki dokumentiert werden soll: Die Vertreter der 15 EU-Staaten, dann die sechs Länder, mit denen die EU bereits über einen Beitritt verhandelt, sodann weitere sechs Staaten, mit denen demnächst ebenfalls verhandelt wird (Lettland, Litauen, die Slowakei, Malta, Bulgarien und Rumänien) - und schließlich die Türkei, die in Helsinki den EU-Kandidatenstatus erhalten soll. Bundeskanzler Gerhard Schröder gehört zu den EU-Regierungschefs, die sich für die Türkei besonders stark machen. Schon beim Kölner EU-Gipfel im vergangenen Juni hatte Schröder versucht, einen Konsens unter den 15 Mitgliedstaaten über die Heranführung der Türkei an die EU herbeizuführen - allerdings ohne Erfolg. Nun gilt es aus der Sicht der Bundesregierung auch unmittelbar vor dem Treffen von Helsinki noch keineswegs als ausgemacht, dass eine diplomatische Einigung über die Türkei diesmal unter den 15 tatsächlich zu Stande kommt. Scheitern die Gespräche, dann dürfte die Türkei nicht nur beim Arbeitsessen am Samstag fehlen - auch der außenpolitische Eklat wäre absehbar. Aus der Sicht der Bundesregierung soll der EU-Kandidatenstatus für die Türkei vor allem eines signalisieren: Von einer Diskriminierung des Landes am Bosporus kann keine Rede sein, auch der vom Islam geprägten Türkei soll die Möglichkeit einer EU-Mitgliedschaft eingeräumt werden. Ankara soll bei der Beurteilung politischer und wirtschaftlicher Fortschritte auf einem Weg Richtung EU genauso behandelt werden wie die zwölf Staaten, mit denen die EU demnächst Beitrittsverhandlungen führt. Allerdings ist allen Beteiligten klar, dass an einen EU-Beitritt der Türkei nur auf lange Sicht zu denken ist. Kanzler Schröder hat in einem Schriftwechsel mit dem türkischen Premier Bülent Ecevit bereits darauf hingewiesen, dass für die Türkei "Kandidatur" nicht gleichbedeutetend mit "Aufnahme" sei.

Den Vorwurf, bei einem Kandidatenstatus für die Türkei handele es sich um einen Etikettenschwindel, will die Bundesregierung nicht gelten lassen. Schließlich darf Ankara als EU-Kandidat nicht nur mit einem verstärkten Dialog über die Menschenrechte, die Behandlung der Kurden und den Aufbau des Rechtssystems rechnen, sondern auch mit handfesten Vor-Beitrittshilfen.

Ob nun die Türkei in Helsinki tatsächlich den Status eines Kandidaten erhält oder nicht - klar ist auch, dass spätestens mit dem Gipfel in dieser Woche die Diskussion über die endgültige Gestalt der Europäischen Union beginnt. Im kommenden Jahr wird sich für die EU verstärkt die Frage stellen, welche geographischen Grenzen der Europäischen Union gesetzt sind und wie der Verfassungsrahmen für die größer werdende Gemeinschaft aussehen könnte. Diesem Ziel, das mit dem Stichwort "innere Reform der EU" verbunden ist, sollen auch in Helsinki Gespräche über institutionelle Fragen dienen. In der zweiten Hälfte des kommenden Jahres soll dann unter französischer EU-Ratspräsidentschaft entschieden werden, wie viele Kommissare Brüssel künftig noch verkraften kann und wie die Stimmen in den Ministerräten neu gewichtet werden sollen. Bis zum Jahr 2003, so das Kalkül, soll eine derart reformierte EU dann bereit sein für die Aufnahme neuer Mitglieder. Wie viele das zunächst sein werden - auch darüber gibt es schon Planungen. Der Standpunkt der Bundesregierung: Die Gruppe der ersten Aufnahmekandidaten, die ab dem Jahr 2003 mit einem Beitritt rechnen können, soll "überschaubar" bleiben.