yahoo, 9. Dezember 1999, 06:15 Uhr Berlin ist Demonstrationshauptstadt Durchschnittlich sieben Kundgebungen pro Tag - Innensenator prüft Einschränkungen Von AP-Korrespondent Michael Fischer Berlin (AP) Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat es geahnt. In Berlin würden wohl «eher mehr Demonstrationen und Kundgebungen» mit bundespolitischem Bezug als in Bonn stattfinden, sagte er Anfang September, kurz nachdem Parlament und Regierung ihre Arbeit in der Hauptstadt aufgenommen hatten. Recht hatte der SPD-Politiker: In den ersten zwei Monaten nach dem Umzug gab es gleich eine ganze Serie von Demos gegen die rot-grüne Regierungspolitik. Tausende von Soldaten, Beamten, Rentnern und Bauern machten ihrem Ärger über das Sparpaket Luft, Stadtwerker protestierten gegen die Liberalisierung des Strommarktes, Ärzte und Pfleger gegen die Gesundheitsreform und Kernkraftgegner für den zügigen Atomausstieg. Insgesamt 417 Aufzüge und Versammlungen zählte die Senatsverwaltung für Inneres im September und Oktober. In Bonn waren es im ganzen Jahr 1998 dagegen nur knapp 300. Berlin galt schon immer als Deutschlands Demonstrationshauptstadt. In den vergangenen Jahren ist die Protestfreude allerdings in ungeahnte Rekordhöhen gestiegen. Während in den 80er Jahren laut Statistik lediglich zwei Demonstrationen pro Tag stattfanden, waren es in der ersten Hälfte der 90er bereits 3,5. Inzwischen gehen die Berliner durchschnittlich 7,1 Mal am Tag zum Demonstrieren auf die Straße. Die meisten Veranstaltungen haben mit Politik allerdings nur recht wenig zu tun. Die «Anarchistische Pogo-Partei» beispielsweise meldete eine Versammlung unter dem Motto «Arbeit ist Scheiße» an. Im Sommer rollten zehntausende Inline-Skater gleich 16 Mal durch die Stadt, um ihrer Forderung nach Gleichberechtigung im Straßenverkehr Ausdruck zu verleihen. Die Hanfparade hat seit 1997 ihren festen Platz im Berliner Demonstrationskalender. Der Spaßfaktor dominiert zweifellos auch bei der Love Parade. Trotzdem trägt das Tanz-Spektakel nun schon seit zehn Jahren das Prädikat «politische Demonstration». In der Berliner Bevölkerung sorgt die anschwellende «Protestwelle» inzwischen für Unmut. Vor allem um die Hauptschauplätze Brandenburger Tor, Straße des 17. Juni und Unter den Linden ist regelmäßig Verkehrschaos angesagt. Auch den Polizisten macht die steigende Zahl der Demos zu schaffen. Die Gewerkschaft der Polizei führt einen erheblichen Teil ihrer insgesamt 1,4 Millionen Überstunden auf die Einsätze zur Sicherung der Versammlungen zurück. «Exzessive Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit» Innensenator Eckart Werthebach reagierte auf die zahlreichen Unmutsäußerungen. Anfang November setzte er eine Arbeitsgruppe ein, um rechtliche Möglichkeiten zur besseren Bewältigung des Problems auszuloten. Es müsse geprüft werden, «ob es im Sinne unseres Grundgesetzes ist, dass die freie Entfaltung der großen Mehrheit der Bevölkerung zunehmend durch die exzessive Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit durch Minderheiten immer öfter ausgeschlossen wird», erklärte er. Der CDU-Innenexperte Roland Gewalt ging sogar noch weiter und regte eine Bundesratsinitiative an. Durch eine Gesetzesänderung könne beispielsweise ermöglicht werden, den Demonstrationsort nach der Teilnehmerzahl auszusuchen. Vor allem bei den Grünen und der PDS, aber auch bei SPD-Politikern, trafen die Anregungen aus der Union auf heftigen Protest. Auch dem Ältestenrat des Bundestags stellte Werthebach sein Anliegen vor. Dort fühlt man sich durch Protestveranstaltungen in der Nähe des Reichstags allerdings noch nicht belästigt. «Der Zugang der Abgeordneten zum Parlamentsgebäude ist gesichert», sagte Bundestagssprecher Hartwig Bierhoff. Auch für eine Diskussion um die Ausweitung des so genannten «befriedeten Bezirks» um den Reichstag gebe es daher gegenwärtig keinerlei Anlass.
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