FACTS, 9.12.1999 Draussen vor der Tür Auf dem Gipfel der EU-Regierungschefs in Helsinki wird die Türkei zur Beitrittskandidatin gekürt. Dabeihaben will man sie aber nicht. Von Gunnar Köhne Die Geschichte mit dem Kanarienvogel-Verein ist Mehmet Kösker unangenehm. Der türkische Generalstab hat eine Liste von Vereinen veröffentlicht, in denen Offiziere Mitglied sein dürfen. Im Verein der Küchen-freunde zum Beispiel, bei den Campern von Türkiye Kamp ve Karavan, bei den Ankara Hals-Nasen-Ohren-Chirurgen oder den Kanarienvogel-Liebhabern Izmir. Der Nachrichtenchef der nationalistischen Tageszeitung «Türkiye» schaut verlegen lächelnd auf den Boden und sagt: «Das gäbe es in anderen europäischen Ländern wohl nicht.» Verglichen mit den EU-Staaten ist in der Türkei so manches anders. «Wir haben noch zu wenig Menschenrechte», gibt Kösker zu. Ungewohnte Töne, glatt und ein wenig einstudiert. Seit Jahren hat «Türkiye», das Hausblatt der türkischen Rechten, gegen die Menschenrechtskritiker im Ausland polemisiert. Das Wort «defol», freundlich übersetzt: «Hau ab», war in den Schlagzeilen des Blatts die gängige Antwort nach Westen. «Hängen wir ihn auf», liess Kösker zum Prozess gegen den PKK-Chef Öcalan (für «Türkiye» schlicht der «Baby-Killer») titeln. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Ankara um einen Aufschub der Vollstreckung ersuchte, kam der Aufmacher in der vergangenen Woche als unschuldige Frage daher: «Sollen wir den Verbrecher aufhängen, oder sollen wir warten?» So kurz vor dem europäischen Gipfeltreffen in Helsinki, auf dem über den EU-Kandidatenstatus der Türkei entschieden werden soll, übt man selbst bei «Türkiye» Zurückhaltung. «Das türkische Volk ist für die Todesstrafe», sagt Kösker. «Aber es will auch in die Europäische Union. Alles hat eben seinen Preis.» In der Türkei herrscht in allen politischen Lagern gespannte Erwartung. 36 Jahre nach dem ersten Assoziierungsabkommen mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und zwei Jahre nach der Zollunion mit der EU soll die Türkei an diesem Wochenende in das Wartezimmer der Gemeinschaft vorgelassen werden. Vor zwei Jahren, auf dem EU-Gipfel in Luxemburg, wurde der Antrag der Türkei noch brüsk abgewiesen. Das Schlagwort von einer «Christlichen Gemeinschaft», in der für Muslime kein Platz sei, machte die Runde. Deutschlands Kanzler Kohl giftete, er hätte im Geografie-Unterricht nicht gelernt, dass Anatolien Teil Europas sei. Ankara brach nach der Abfuhr alle politischen Kontakte mit der EU ab, die Zeitungen spien Gift und Galle. Wer hat sich in der Zwischenzeit geändert, die Türkei oder die Europäische Union? Beide, sagt Karen Fogg, Vertreterin der EU-Kommission in Ankara. «Wir haben eine neue EU-Kommission, wir hatten Regierungswechsel in einigen Mitgliedstaaten, etwa in Deutschland, und wir haben seit Jahren erstmals eine relativ stabile Regierungsmehrheit im türkischen Parlament.» In einem 55-Seiten-Bericht an die Kommission in Brüssel hat die Britin ungeschönt dargestellt, wie weit die Verhältnisse in der Türkei noch von einer möglichen Mitgliedschaft entfernt sind. Wirtschaftlich gesehen, heisst es dort, könnte die Türkei dank zahlreicher Reformen, etwa im Bankenwesen, und der Privatisierung von Staatsbetrieben dem «Wettbewerbsdruck innerhalb der Union standhalten - wenn auch mit Schwierigkeiten». Nach wie vor herrschen laut Bericht aber «ernste Defizite in Bezug auf die Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten. Folter geschieht nicht systematisch, ist aber weit verbreitet; die Meinungsfreiheit wird durch die Behörden regelmässig eingeschränkt.» Heftig kritisiert wird auch die «dominierende Rolle des Militärs im politischen Leben». Warum hat die EU-Kommission dennoch eine Aufnahme der Türkei in den Kandidatenkreis empfohlen? Karen Fogg windet sich: «Es gab ein paar Fortschritte in der Demokratisierung.» So wurde die Zusammensetzung der Staatssicherheitsgerichte geändert, Folterern drohen höhere Strafen, und es gab eine teilweise Amnestie für Leute, die wegen «Gedankenverbrechen» einsitzen. Wichtig ist auch die Annäherung zwischen Türken und Griechen und die Tatsache, dass griechische und türkische Zyprioten wieder miteinander verhandeln. Auch hat Ankara angedeutet, eine Entscheidung des europäischen Menschenrechts-Gerichtshofs zum Fall Öcalan abzuwarten. Bis dahin könnte ein Gesetzesentwurf zur völligen Abschaffung der Todesstrafe verabschiedet sein, hofft man in Brüssel. «Alles Ausreden», dröhnt Ishak Alaton mit lauter Stimme und wirbelt mit seiner Faust durch die Luft. Die Türkei habe sich seit dem EU-Gipfel vor zwei Jahren kaum verändert - alles genauso schlimm wie immer. «Aber die Europäer haben nach dem Kosovo-Krieg begriffen, wie wichtig Stabilität in Südosteuropa ist. Und wie gefährlich eine Türkei ohne Bindungen im Westen. Dann hätten sie eine umherrollende Kanone voller Schwarzpulver an Deck, die jederzeit losgehen kann.» Von seinem Istanbuler Büro aus hat der 73-Jährige freien Blick auf den Bosporus und auf die Brücke, die von Asien hinüber nach Europa führt. Der jüdische Unternehmer gehört zu den einfluss-reichsten Persönlichkeiten der Türkei, seine Bau- und Energieholding Alarko hat er innert dreissig Jahren ohne einen Rappen Kapital unter die zehn grössten Unternehmen des Landes gebracht. Sein Vater war 1942 durch eine 200-prozentige Sondersteuer für Juden in den Ruin getrieben worden und musste mehrere Monate in einem Steinbruch arbeiten - eine prägende Erfahrung für den damals 18-jährigen Ishak. Seit er das Tagesgeschäft in der Firma seinen Nachfolgern überlassen hat, tritt Alaton weltweit als leidenschaftlicher Fürsprecher einer demokratischen Türkei auf - mal in Kapstadt, mal bei der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung oder in «Newsweek». Wenn der Kosmopolit, der fünf Sprachen beherrscht, auf Foren und in Interviews schimpft, «die Leute in Ankara haben ein repressives Weltbild aus der Osmanenzeit», ballen die Mitglieder der Grossen Türkischen Nationalversammlung die Fäuste in der Tasche zusammen. Am Rande eines Staatsbesuchs in Ankara vor drei Wochen bat Finnlands Präsident Ahtisaari, derzeit EU-Ratsvorsitzender, den umtriebigen Pensionär Alaton um Argumentationshilfe für ein Pro-Türkei-Votum: «Ich habe ihm gesagt: Wir Türken haben spätestens nach den schweren Erdbeben verstanden, dass die Türkei nur mit Hilfe europäischen Drucks ein wirklich modernes, demokratisches Land werden kann. Wir haben jede Geduld mit den Regierenden in Ankara verloren.» Gesellschaftlich befindet sich das Land im Umbruch, aus Verbitterung über die Unfähigkeit des Staates bilden sich immer mehr Bürgerinitiativen, die auf Unterstützung hoffen. Beispiel Erdbeben: Mittlerweile gibt es über 200 vom Staat unabhängige Rettungs- und Hilfsvereine, von den organisierten Bergleuten aus den Kohlerevieren am Schwarzen Meer bis zum Verband der türkischen Bergsteiger. Der Lions Club hat ebenso eine Abteilung mit Rettungskräften wie islamistische Vereine oder die griechisch-orthodoxe Gemeinde. Europa als Mittel gegen den politischen und wirtschaftlichen Stillstand - das ist die verhaltene Hoffnung der demokratischen Opposition. «Mehr als verhalten aber auch nicht», sagt eine Galeristin in Istanbul. «Dafür sind wir in den letzten 20 Jahren zu oft abgelehnt worden.» Diesmal wird es wohl klappen. Abgesehen von Griechenland, das noch Vorbehalte wegen der Zypern-Frage hat, sind nun selbst kritische Mitglieder wie Holland oder Schweden dafür, der Türkei mit dem Kandidatenstatus symbolisch die Hand zu reichen. Dass aber die Türkei auf absehbare Zeit ein Mitglied werden könnte, glaubt nicht einmal die deutsche Regierung, obwohl sie besonders heftig für diese Geste getrommelt hat. «70 Millionen Menschen, davon die Hälfte unter 30 Jahren, das ist mehr als alle anderen sechs Bewerber zusammen», stöhnt ein deutscher Diplomat. «Das würde die Union sprengen.» Während die Slowakei, Ru-mänien, Bulgarien, Lettland, Litauen und Malta am Wochenende zu Mitgliedsverhandlungen eingeladen werden, darf sich die Türkei vorerst nur mit dem folgenlosen Titel «EU-Kandidatin» schmücken. Bis zu Beitrittsver-handlungen können Jahre, wenn nicht Jahrzehnte vergehen, da muss Ankara «noch eine Menge tun», sagt Britan-niens Aussenminister Robin Cook. «Sonderbedingungen akzeptieren wir nicht. Und noch einmal werden wir uns nicht bewerben», versprach der türkische Aussenminister Ismail Cem. «Das Kapitel EU ist dann für uns ein für alle Mal erledigt.» Stolz vermeidet die Mitte-rechts-Regierung jeden Eindruck, ihr Land habe in Helsinki irgendetwas zu verlieren. Im Gegenteil, sagen Nationalisten wie «Türkiye»-Nachrichtenchef Mehmet Kösker, für Europa wäre die Türkei ein grosser Gewinn: «Das haben die Europäer endlich eingesehen. Wir sind strategisch wichtig für den Nahen Osten und auf dem Weg zum Energiezentrum am Kaspischen Meer, immer mehr Gas und Ölpipelines führen über unser Territorium.» Ähnlich hat US-Präsident Bill Clinton bei seinem Besuch Anfang November argumentiert. Für Washington ist die Türkei ein wichtiger Verbündeter gegen die Unruhestifter der Region, Irak, Iran und Syrien. Ausserdem ziehen beide Länder beim Kampf um die milliardenschweren Ölvorkommen am Kaspischen Meer an einem Strang. Zur Verärgerung der Europäer machte sich Clinton im türkischen Parlament zum Fürsprecher: «Ein ungeteiltes, demokratisches und friedliches Europa ist so lange unvollständig als es nicht auch die Türkei einschliesst.» Das Gesicht von Ministerpräsident Bülent Ecevit strahlte bei diesen Worten eine seltene Zufriedenheit aus. Kurz darauf konnte er sich beim OSZE-Gipfeltreffen in Istanbul als weltgewandter Gastgeber präsentieren. Wenigstens für ein paar Tage war die Türkei wieder jemand auf der Weltbühne.
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