taz, 10.12.1999 Ewige Wackelkandidatin Wird die Türkei, 36 Jahre lang assoziiertes Mitglied, endlich in den Rang einer offiziellen Kandidatin für den EU-Beitritt erhoben? "Ich kann diese Europadebatte bald nicht mehr hören", stöhnte kürzlich der türkische Menschenrechtsaktivist Erturul Kücük, "das ist ja schon wie ein Ohrwurm." In der Tat ist Europa seit Wochen das beherrschende Thema in der türkischen Öffentlichkeit. Jetzt, einen Tag vor dem entscheidenden EU-Gipfel in Helsinki, ist die Spannung auf dem Höhepunkt. Wird die Türkei, nach 36 Jahren als assoziiertes Mitglied, nun endlich in den Rang einer offiziellen Kandidatin für den Beitritt zur Gemeinschaft erhoben, oder wird Helsinki zum finalen Drama einer immer schon schwierigen Beziehungskiste? Bis zuletzt sorgt vor allem Griechenland für Spannung. Nachdem es im Anschluss an die großen wechselseitigen Hilfsaktionen zur Bewältigung der Erdbebenkatastrophen in beiden Ländern zu euphorischen Freundschaftsbekundungen kam und es so schien, als sei Griechenland plötzlich zum Fürsprecher der Türkei geworden, ruderte Außenminister Georgios Papandreou in den letzten Tagen wieder zurück. Von der eigenen Opposition als Verräter beschimpft, der die Interessen Griechenlands missachtet, musste Papandreou, der persönlich davon überzeugt ist, dass ein türkischer EU-Beitritt letztlich beiden Ländern nutzt, noch einmal kräftig auf den Tisch hauen. Immerhin hat er seinen türkischen Kollegen Ismail Cem - beide arbeiten seit Monaten bestens zusammen - dazu gebracht, Griechenland ein wichtiges Zugeständnis zu machen. Im Streit um die Hoheitsrechte in der Ägäis, so Cem vor zwei Tagen in einem Interview mit der Zeitung Milliyet, werde man die Schlichtungsregeln der EU akzeptieren, sprich: ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag anerkennen. Die türkische Regierung ist, in breiter Übereinstimmung mit der öffentlichen Meinung im Lande, davon überzeugt, dieses Mal nun wirklich alles dafür getan zu haben, dass der Gipfel von Helsinki ein Erfolg wird. Unermüdlich ist Außenminister Cem durch die europäischen Hauptstädte getourt, um Bedenken gegen eine türkische Kandidatur im direkten Gespräch zu zerstreuen. Dabei wurde offen über Menschenrechtsprobleme geredet, und selbst über eine politische Lösung der Kurdenfrage konnte, wie die schwedische Außenministerin erstaunt anmerkte, "erstmals wirklich diskutiert werden". "Wenn Europa an den Menschrechten in der Türkei wirklich etwas liegt", sagte Außenminister Cem mit Blick auf den Helsinki-Gipfel gegenüber der Zeitung Radikal, "ist heute der Tag dafür." Im Umgang mit Abdullah Öcalan zeigte sich denn auch, dass die entscheidenden Leute in der türkischen Politik bereit sind, für eine Annäherung an die EU substanzielle Zugeständnisse zu machen. Statt wie früher empört und laut über die europäische Einmischung zu lamentieren, wurde während des Öcalan-Prozesses und der folgenden Monate die türkische Öffentlichkeit systematisch darauf eingestimmt, dass eine Hinrichtung des verhassten Kurdenführers keinesfalls im Interesse des Landes liegt. Vor wenigen Tagen sagte Präsident Demirel dann offen, was nur noch einige Nationalisten der MHP nicht wahrhaben wollen: Wenn wir zur EU gehören wollen, müssen wir die europäischen Gesetze akzeptieren und die Todesstrafe abschaffen. Abdullah Öcalan selbst griff diesen Ball begeistert auf und erklärte in der kurdischen Tageszeitung Özgür Politika, er erwarte, dass "die Kandidatur der Türkei in Helsinki bedingungslos akzeptiert werde". Eine EU-Annäherung würde die politische Lösung der kurdischen Frage sehr erleichtern. Selbst die Islamisten setzen derzeit auf das EU-Ticket. Wie die Kurden, wie die demokratische Linke, wie überhaupt die Mehrheit der türkischen Bevölkerung, hoffen auch die Islamisten darauf, dass die überfällige Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidatin endlich einen Durchbruch im Bereich der Meinungsfreiheit und eine Demokratisierung im Parteiengesetz mit sich bringt. Alle NGOs, Menschenrechtsgruppen und Zusammenschlüsse, die sich für eine neue, demokratischere Verfassung einsetzen, hoffen, dass nach Helsinki in der Türkei "eine neue Ära beginnt". "Die Erwartungen", befand Daniel Cohn-Bendit, der sich mit einer EU-Parlamentarierdelegation seit zwei Tagen in der Türkei aufhält, "sind enorm". Skeptische Fragen von Cohn-Bendit und anderen Parlamentariern wurden in einer Diskussion mit Menschenrechtsaktivisten, Schriftstellern und kritischen Journalisten immer mit demselben Argument gekontert: Der Weg ist das Ziel. Es kommt auf den Prozess an. Es bringt nichts, jetzt darüber zu streiten, ob die Türkei in 10, 20, 30 Jahren oder vielleicht auch nie Vollmitglied der EU wird, jetzt geht es darum, den Prozess wirklich zu beginnen. Wohl noch nie in der langen Geschichte der Türkei mit Europa war der größte Teil der türkischen Bevölkerung der Europa-Idee gegenüber so aufgeschlossen wie heute. Deshalb stößt die neuerliche Debatte um die Grenzen Europas unter türkischen Intellektuellen auf heftige Irritationen. Hinter dieser Debatte vermuten viele nichts anderes als ein letztes Ausschlusskriterium, wenn die Türkei sonst alle EU-Anforderungen erfüllt hat. Cohn-Bendit räumte ein, dass immer, wenn es um die Türkei geht, im Europaparlament wesentlich emotionaler und grundsätzlicher diskutiert werde als bei allen anderen Beitrittskandidaten: "Da haben einige immer noch die Türken vor Wien im Kopf." Der Schriftsteller Orhan Pamuk glaubt dagegen an wesentlich nüchterne Motive: "Läge das jährliche Pro-Kopf-Einkommen bei 20.000 Dollar statt wie jetzt bei 3.000 bis 4.000 Dollar, gäbe es die Frage nach den Grenzen Europas in Bezug auf die Türkei nicht." Jürgen Gottschlich, Istanbul
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