Die Welt, 10.12.1999 Ankaras Nationalstolz ist verletzt Istanbuler Wirtschaftsprofessor warnt vor türkischer EU-Euphorie Von Ayhan Bakirdögen Berlin/Istanbul - Erol Manisali polarisiert gern. Der Wirtschaftsprofessor an der Istanbuler Universität folgt auch in der Frage eines möglichen EU-Kandidatenstatus keineswegs der offiziellen Marschroute seines Landes. "Würde die Türkei ein Bündnis mit Bangladesch eingehen?", fragt er provozierend. Warum sollten also die Europäer eine Türkei mit solch schlechten wirtschaftlichen Daten in die EU aufnehmen? Wenn man die Türkei aufnähme, müsse man auch mit Ländern wie Weißrussland oder der Ukraine verhandeln. "Wie wollen Sie den deutschen Steuerzahlern erklären, dass sie diese Länder miternähren sollen?" "Wir müssen realistisch bleiben und nicht in Euphorie aufgehen", meint Manisali. Die Europäer gingen "ganz rational heran" und überlegten genau, was die Mitgliedschaft der Türkei der EU bringen könnte. Dabei schreckte sie vor allem, ein Land mit 65 Millionen Einwohnern aufzunehmen und ihm entsprechendes Mitspracherecht in EU-Gremien zu geben. Die Türkei hätte zudem ein Anrecht auf jährlich 20 Milliarden Dollar Finanzhilfe aus EU-Kassen. "Diese Zahl bringt Deutschland und Frankreich schon jetzt auf die Palme." Die vor vier Jahren zwischen der EU und der Türkei unterzeichnete Zollunion bezeichnet Manisali als "einseitig und ungerecht". "Mit dieser Zollunion hat die EU alles an sich gerissen, ohne der Türkei etwas zu geben", erregt er sich. Seitdem könne die EU ihre Produkte zollfrei in der Türkei verkaufen, während die Türken "kaum eine Chance haben, ihre Waren auf europäischen Märkten anzubieten". Die Zollunion erinnere an "Kolonialverträge, die England im letzten Jahrhundert mit Indien abgeschlossen habe". Seitdem würden sämtliche Außenhandelsbeziehungen der Türkei von Brüssel aus bestimmt. "Wenn die EU für turkmenische Baumwolle eine Quote beschließt, muss die Türkei das akzeptieren, auch wenn es ihr keinen Gewinn bringt", sagt Manisali. Normalerweise wird ein Land in die EU aufgenommen und später mit Finanzhilfen stufenweise in die Zollunion integriert. "Im Falle der Türkei wurde die Reihenfolge auf den Kopf gestellt", sagt der Wirtschaftsprofessor. Wenn ihr in Helsinki keine Perspektive aufgezeigt werde, müsse man darüber nachdenken, ob man die Zollunion nicht rückgängig machen könne. Die Türkei versucht seit 41 Jahren EU-Mitglied zu werden. 1958 hatte der frühere türkische Ministerpräsident Adnan Menderes die ersten Gespräche mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgenommen. 1961 wurde Menderes von der Militärjunta hingerichtet, und die Gespräche mit der EGW wurden eingefroren. Am 25. Juni 1963 unterzeichnete die Türkei mit der EWG einen Assoziierungsvertrag, der ihr langfristig die Vollmitgliedschaft in Aussicht stellte. Doch es kam anders. Der offizielle Antrag, den die türkische Regierung am 14. April 1987 unter dem inzwischen verstorbenen Ministerpräsidenten Turgut Özal eingereicht hatte, wurde nach zweieinhalbjähriger Überprüfung wegen großer sozialer und wirtschaftlicher Differenzen zu anderen EU-Ländern abgelehnt. Vor zwei Jahren ging die EU beim Luxemburger Gipfel einen Schritt weiter und strich die Türkei auf absehbare Zeit aus der Kandidatenliste. Das traf die Türken wie ein Schlag und verletzte ihren Nationalstolz. Sollte das der Preis für den jahrzehntelangen, bedingungslosen Einsatz in der Südostflanke der Nato gegen die drohende kommunistische Gefahr sein? Fast alle Beziehungen zu EU-Ländern wurden daraufhin abgebrochen. Wenn die Europäer uns nicht wollen, werden wir andere Kooperationspartner suchen, hieß es trotzig. Die Wirtschaftsbeziehungen zu den USA wurden intensiviert. Die wiederum hielten der Türkei auf internationalem Parkett den Rücken frei und übten Druck auf die Europäer aus. Doch seit einiger Zeit stehen die Zeichen auf Versöhnung. Alle politischen Parteien wollen eine EU-Mitgliedschaft, um wichtige Reformen auf den Weg zu bringen. Indes: Man wolle nicht "die eigene Identität aufgeben" und werde in dieser Hinsicht auch "keine Abstriche machen", meint das Präsidiumsmitglied der sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei, Murat Karayalcin. Ähnlich äußert sich der stellvertretende Vorsitzende der regierenden Mutterlandspartei, Bülent Akarcali. Er hat in Brüssel studiert und seine Diplomarbeit über EU-Beziehungen der Türkei geschrieben. Deshalb kann er mit konkreten Zahlen jonglieren. "Die EU verkauft im Jahr Waren im Wert von zwölf Milliarden Dollar in die Türkei." "Mit den Zinseinnahmen von an die Türkei vergebenen Krediten verdienen die Europäer jährlich fast 25 Milliarden Dollar an der Türkei", rechnet Akarcali vor. Er weiß, dass die Vollmitgliedschaft der Türkei noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. "Die Europäer tun so, als ob konkrete Verhandlungen morgen beginnen würden, und verlangen von uns, dass wir alle Kriterien sofort erfüllen. Das haben sie mit anderen Kandidaten, die bis jetzt aufgenommen wurden, nicht gemacht", behauptet Akarcali. Bei der Vollmitgliedschaft erwartet die Türkei große Unterstützung von Deutschland. Dennoch ist der ehemalige Außenminister Mümtaz Soysal sehr pessimistisch. "Wenn die Türkei alles tut, was die Deutschen wollen, wird Deutschland unsere EU-Kandidatur unterstützen. Aber die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer werden sie möglichst verschieben", prophezeit der "Hürriyet"-Kolumnist. Dabei hoffen viele Türken, dass sie bei einer späteren EU-Mitgliedschaft problemlos nach Deutschland einreisen können.
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