Berliner Zeitung, 10.12.19999 "Helsinki ist die zweite Chance" EU-Generaldirektor Nikolaus van der Pas plädiert dafür, dass die Türkei offiziell als Beitrittskandidat akzeptiert wird Beim EU-Gipfel in Helsinki werden die Staats- und Regierungschefs an diesem Wochenende beschließen, Beitrittsverhandlungen mit sechs weiteren EU-Anwärtern aufzunehmen. Mit den ersten sechs Ländern verhandelt die Union bereits seit 1998. Bettina Vestring sprach mit dem für die Erweiterung zuständigen Generaldirektor der EU-Kommission, Nikolaus van der Pas. Wie weit sind die Verhandlungen mit den ersten sechs Ländern, also mit Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern, inzwischen vorangekommen? Die Fortschritte sind ziemlich gut. Wir verhandeln seit einem Jahr und haben 23 der insgesamt 31 Verhandlungskapitel aufgeschlagen. Je nach Land sind die Verhandlungen inzwischen bei acht bis zehn Kapiteln abgeschlossen. Die Fortschritte scheinen immer mühsamer zu werden? Wir haben mit den einfachsten Kapiteln angefangen, um ein bisschen Dynamik zu schaffen und die Kandidaten nicht gleich zu entmutigen. Aber jetzt kommen wir schon zu sehr schwierigen Themen, wie zum Beispiel dem Bodenerwerb, wo es harte Diskussionen über die Übergangsfristen gibt. Eine Frist von 18 Jahren, wie sie zum Beispiel in Polen gefordert wurde, kann die EU nicht akzeptieren. Ist das die Angst vor den Deutschen, die massenhaft Boden aufkaufen? Nicht nur den Deutschen. Die Osteuropäer weisen darauf hin, dass der Boden bei ihnen sehr billig ist und damit überall im Westen die Versuchung bestehen könnte, möglichst viel davon aufzukaufen. Wir glauben, dass diese Ängste übertrieben sind. Auch wenn der Rohstoff Boden billig ist, so einfach ist eine Investition nicht. Man geht damit auch Risiken ein. Übrigens gibt es in umgekehrter Richtung bei uns Ängste, die genauso wenig realistisch sind. Wir glauben nicht, dass es eine Invasion von billigen Arbeitskräften geben wird. Ist es denn realistisch zu sagen, dass die ersten Länder 2002 mit den Verhandlungen fertig sein könnten? Das ist der Zeitplan, den wir uns vorstellen: Bis Juni 2000 sollen fast alle Kapitel aufgeschlagen sein. Dann bleiben 18 Monate bis Ende 2001, um zu sehen, welche Lösungen wir für Probleme finden können. Wenn das klappt, dann könnten wir Anfang 2002 die ersten Beitrittsverträge abschließen. Wer hat unter den ersten sechs Ländern die Nase vorn? Die Zyprioten haben einen Vorteil, weil sie keine kommunistische Vergangenheit zu bewältigen haben. Wenn es das politische Problem zwischen den Griechen und den Türken auf der Insel nicht gäbe, könnte man ziemlich sicher sein, dass sie zu den ersten neuen Mitgliedern gehören. Unter den Osteuropäern ist es so, dass die Ungarn einen Vorsprung haben. Die anderen vier Länder sind ziemlich dicht beieinander. Und wie sieht das mit der zweiten Gruppe aus, also mit der Slowakei, Litauen, Lettland, Bulgarien, Rumänien und Malta? In der zweiten Gruppe sind Lettland und die Slowakei vorne. Bulgarien und Rumänien werden noch besondere Anstrengungen machen müssen. Das sieht man auch an den Fortschrittsberichten der Kommission. Wo steht die Türkei unter den Kandidatenländern? Die Türkei ist ein Sonderproblem. Die Kommission hat vorgeschlagen, dass die EU die Türkei als Kandidaten anerkennen sollte. Das bedeutet auch, dass die Türkei in die finanzielle Kooperation und den politischen Dialog mit den übrigen Kandidatenländern einbezogen wird. Außerdem soll eine Beitrittspartnerschaft ausgearbeitet werden, wo die Reformen ausformuliert werden, die die EU von dem Kandidaten erwartet. Wird der Gipfel in Helsinki die Türkei als Kandidaten anerkennen? Das ist immer noch offen. Ich glaube, man muss sich darüber im Klaren sein, dass Helsinki die zweite Chance ist, um das Verhältnis mit der Türkei wieder auf das richtige Gleis zu setzen. Wir haben es im Dezember 1997 in Luxemburg versucht, und damals ist das schief gegangen. Eine zweite Panne kann sich die EU eigentlich nicht leisten, dafür ist das Verhältnis zur Türkei zu wichtig. Aber wenn es in Helsinki nicht klappt, wird es viele Jahre dauern, bevor wir den nächsten Anlauf überhaupt überlegen können.
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