Tages-Anzeiger (CH), 11.12.1999 Protest gegen Ilisu: "Grosse Dämme töten" Der Bundesrat gewährte vor einem Jahr ABB und Sulzer Hydro eine Exportrisiko- garantie für den Ilisu- Damm in der Türkei. Ein fragwürdiger Entscheid, sagen Experten und Komitees auch im Nahen Osten. Von Joerg Dietziker "Hasankeyf rennt in den Tod." Die Schlagzeile in einer türkischen Zeitung eilte im Spätherbst letzten Jahres den Baggern voraus, die im Frühjahr 1999 unweit jener archäologisch bedeutenden Kleinstadt an der Biegung des Tigris in Südostanatolien erwartet wurden. Ganz so schnell kam es nicht, wie wir mittlerweile wissen (TA vom 4. Dezember). Der Bundesratsentscheid, den Grossstaudamm Ilisu mit einer Exportrisikogarantie (ERG) von 400 Millionen Franken abzusichern, wirkte aber in der Region wie ein Fanal für Initiativen gegen das Projekt. So rief Bagdad Anfang Jahr die Schweizer Firmen Sulzer Hydro und ABB in einem Protestschreiben auf, sich vom Ilisu-Projekt zurückzuziehen. Der Irak verwies auf einen Vertrag zwischen Bagdad und Ankara von 1946, der Infrastrukturprojekte entlang von Euphrat und Tigris nur erlaubt, wenn die Unteranrainerstaaten in die Planung einbezogen werden. Mitte Mai liess Syrien London eine Protestnote zukommen, in der von einer ERG für die englische Baufirma Balfour Beatty abgeraten wurde. Syrien und der Irak fürchten um die Restwassermenge. Und nicht zu Unrecht: Das Stauvolumen von Ilisu liegt mit über 11 Milliarden Kubikmeter Wasser fast 50 Prozent über dem normalen Betriebsvolumen. Das bedeutet, dass Ankara während der Trockenzeit das für den Nordirak lebensnotwendige Wasser für Wochen oder gar Monate zurückhalten kann. Sulzers technisch richtiges Argument der saisonalen Regulierung dank Ilisu wird durch die türkische Realpolitik aufgehoben. Bereits während des Golfkriegs 1991 schloss Ankara zeitweise die Schleusen am Euphrat und schnitt so flussabwärts mehr als eine halbe Million Bauern vom Wasser ab. Der britische Think Tank UK Defence Forum, der die Labour-Regierung von Tony Blair berät, sprach sich deshalb gegen staatliche Garantien aus. Der Bau des Ilisu-Staudamms könne Grossbritannien und die Nato als Verbündete der Türkei in einen Krieg mit Syrien und dem Irak ziehen, warnte er. Schlamm im Damm Doch nicht nur als politisches Erpressungsinstrument wird Ilisu bezeichnet. Verschiedene Experten warnen vor ökologischen Folgen. So der Gouverneur von Adiyaman, dem Regierungsbezirk in unmittelbarer Nachbarschaft des Atatürk-Staudamms. Dieses Herzstück des "Entwicklungsvorhabens" Südostanatolienprojekt (GAP) sei bereits zum Sanierungsfall geworden. An einzelnen Stellen sei der See infolge von Erosion und der damit verbundenen Sedimentfracht zu 30 Prozent mit Schlamm gefüllt. Wissenschaftler gehen nur noch von einer Betriebsdauer von 50 Jahren aus anstatt der prophezeiten 200, wenn nicht sofort Bäume gepflanzt werden. Doch weil für das GAP, zu dem auch Ilisu gehört, das Geld knapp geworden ist, wird an Umweltauflagen gespart. Dies mussten vor einigen Wochen die Bewohner unweit des Hancagiz-Stausees erfahren. 300 Firmen tummeln sich in der freien Produktionszone Gaziantep, angezogen durch grosszügige Investitionsanreize, und lassen ihre Abwässer ungeklärt in den See. Der Fischbestand, von dem lokale Kleinunternehmen leben, wurde vernichtet. Der Ilisu-Damm ist eine Kopie des Atatürk-Staudamms. Nach dessen Vorbild will die Türkei zahlreiche weitere freie Produktionszonen im kurdischen Osten aus dem Boden stampfen. Das Erdbeben vom 17. August im Industriegürtel von Izmit wirkte als Katalysator für derartige Pläne. Erçin Kasapoglu, Professor an der Hacettepe-Universität, warnte indes vor überstürzten Investitionen, denn das Gebiet um Ilisu sei ebenso erdbebengefährdet wie die Region in der Westtürkei. Der Ilisu-Schüttdamm ist für einen Erdstoss von sechs Punkten auf der Richterskala geplant. Bei Izmit bebte die Erde mit einer Stärke von 7,4. Als im September die Internationale Kommission für Grossstaudämme ihren Kongress in Antalya abhielt, platzte die "Turkish Daily News" (TDN) deshalb mit folgendem Kommentar in die Runde: "Man wird den Verdacht nicht los, dass den Dammbaukonsortien wissenschaftliche Fakten egal sind. Diese Fakten sagen: Grosse Dämme töten." Die TDN beruft sich auf eine Studie des US Geological Survey, die besagt, dass bei einem Druck von 3700 Pfund pro 6,45 Quadratzentimeter künstliche Erdbeben ausgelöst werden können. Die Zeitung kommt zum Schluss: "Das Auffüllen des Atatürk-Stausees hat möglicherweise das Erdbeben in Adana vom 27. Juni 1998 ausgelöst. Während der Stauphase drückten Millionen von Tonnen auf die nahen Erdbebenverwerfungen." Die wundersame Saat Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass der türkische Energiebedarf wächst und die kurdische Region einen Aufschwung dringend nötig hat. Der Präsident des Komitees "Freunde von Hasankeyf" im kurdischen Batman hat dennoch Bedenken. Das meiste Land in der Umgebung von Ilisu gehöre mittlerweile Grossgrundbesitzern. "Diese pflanzen plötzlich Fruchtbäume, um bei der zu erwartenden Enteignung vom Staat dafür entschädigt zu werden." Es würden also nur wenige Wohlhabende profitieren. Allein in der nahen Umbgebung von Ilisu würden mehr als 10 000 Bewohner leer ausgehen und sich schon bald in Elendssiedlungen von Grossstädten wieder finden. Solche Auswirkungen verletzen mehrere Weltbankrichtlinien, so etwa Richtlinie 4.30 betreffend erzwungener Migration. "Der Lebensstandard von umzusiedelnden Personen sollte erhöht, mindestens aber beibehalten werden", heisst es darin. "Besondere Rücksicht zu nehmen ist dabei auf Landlose und Haushalte, die von Frauen geführt werden." Der Ilisu-Staudamm schafft also neue Probleme, anstatt alte zu lösen. Er könnte 3,8 Gigawattstunden Strom produzieren, aber durch schlechte Wartung bestehender Anlagen geht heute 4,5-mal so viel verloren. Alternativprojekte zog die türkische Regierung nie in Betracht. Der Verdacht, weshalb sie dennoch an Ilisu festhalten will, bekam im Sommer von unerwarteter Seite Nahrung: Laut einem türkischen Kommandanten war geplant, mit dem See die Rückzugsmöglichkeiten der PKK in den Irak zu unterbinden. Nachdem die PKK im Herbst die Waffen gestreckt hat, ist zumindest dieses Argument entfallen. Der Verzicht auf Ilisu würde aber auch Bundes-Bern aus einer Zwickmühle befreien. Das Monitoring, das der Bundesrat als Voraussetzung für die Exportrisikogarantie verlangt, erachten viele kurdische Politiker nämlich als nicht durchführbar. Ilisu ist Chefsache, politischer Widerspruch dagegen nach wie vor mit grossen Gefahren verbunden.
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