Neue Züricher Zeitung, 11.12.1999

Der EU-Gipfel im Zeichen der Erweiterung

Schwieriges Verhältnis der Gemeinschaft zur Türkei

Am EU-Gipfel in Helsinki ist die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit fünf osteuropäischen Ländern und Malta beschlossen worden. Die Türkei erhält den Status einer Kandidatin. Bestätigt wurde auch der Aufbau der Verteidigungsgemeinschaft. Auf dem Programm stehen weiter die internen Reformen als Voraussetzung für die Erweiterungsfähigkeit der EU, das Steuerpaket sowie der russische Krieg in Tschetschenien.

lts. Helsinki, 10. Dezember

Die finnische Hauptstadt hat die Staats- und Regierungschefs der EU im Schneesturm empfangen, und das Nein der Franzosen zur Wiederaufnahme des Imports von britischem Rindfleisch und jenes der Briten zu einem weiteren Kompromissvorschlag zur Besteuerung von Kapitalerträgen sorgten für einen stürmischen Auftakt in den Verhandlungsräumen. Gefragt, ob diese Streitpunkte die Atmosphäre belastet hätten, legte der deutsche Aussenminister Fischer eine längere Denkpause ein, um dann festzustellen, es sei weder «zu Tätlichkeiten noch zu Beschimpfungen» gekommen.

Reise Solanas nach Ankara

Ohne Schwierigkeiten entschied die Runde, mit fünf weiteren osteuropäischen Staaten und Malta Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, was der für die Erweiterung zuständige Kommissar Verheugen als «endgültige Beseitigung des Eisernen Vorhanges» feierte. Im Verlauf des Nachmittags gab der finnische Ministerpräsident Lipponen zudem bekannt, der Rat habe sich für den Kandidatenstatus der Türkei ausgesprochen. Diesem Entscheid waren gemeinschaftsintern schwierige Verhandlungen vorausgegangen über eine Formel, die sowohl den Vorbehalten Griechenlands (Ägäis, Zypern) gerecht würde als auch die Türken nicht durch Sonderauflagen diskriminierte.

Solana als Chef-Aussenpolitiker des Rates und Verheugen reisten am Freitag nach Ankara, um im direkten Gespräch mit den Türken mögliche Missverständnisse über die Position der Europäer auszuräumen. Diese enthält eine generelle Aufforderung an alle Beitrittskandidaten, ihre offenen territorialen oder anderen Streitpunkte unter sich oder mit Hilfe des Internationalen Gerichtshofes zu regeln. Spätestens Ende 2004 werde die Gemeinschaft eine Lagebeurteilung vornehmen. Ohne einen Automatismus zu versprechen, wurde den Griechen zugesichert, die Wiedervereinigung Zyperns bis zu diesem Datum sei keine Vorbedingung für die allfällige Aufnahme des griechischen Inselteils. Sehr genau wird Solana den Türken erklären müssen, was die Abstützung der angebotenen Beitrittspartnerschaft auf frühere EU-Rats- Schlussfolgerungen, darunter auch jene von Ankara als offene Brüskierung empfundene von Luxemburg, im Klartext bedeutet.

Warnung vor einer politischen Eiszeit

Der Europäische Rat war entschlossen, die vor zwei Jahren in Luxemburg erfolgte Zurückweisung der Türken zu korrigieren und ein für allemal zu dokumentieren, dass die Gemeinschaft das seit 30 Jahren versprochene Beitrittsangebot tatsächlich selber auch ernst nehme. Ungeachtet des bestätigten Kandidatenstatus wird es aber in absehbarer Zeit noch zu keinen Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei kommen. Um verhandlungsfähig zu werden, müssen die Türken zuerst die sogenannten Kopenhagener Kriterien der demokratischen Rechtsstaatlichkeit, des Minderheitenschutzes und des Respekts der Menschenrechte erfüllen.

Verweigerte die EU der Türkei erneut die Anerkennung einer europäischen Zukunft, wurde argumentiert, würde die politische Eiszeit im Verhältnis der Gemeinschaft zu diesem wichtigen Partner ausbrechen. «Wenn wir jetzt der Regierung in Ankara keine klare Perspektive geben», erklärte Verheugen in einem Interview, «dann ist die Türkei für den Westen verloren.» Wer sich für politische Veränderungen in der Türkei einsetze, erreiche dieses Ziel sicher nicht durch Isolation, sondern allein durch eine Politik der Annäherung und schrittweisen Heranführung. Der Kandidatenstatus, stellte Verheugen fest, sei keine Wohltätigkeit seitens der EU, sondern eine politische Strategie. Diese sieht in der in Helsinki beschlossenen politischen Aufwertung Ankaras auch einen Hebel, um konkret in der Türkei etwas für die Menschen- und Minderheitsrechte in Bewegung zu setzen.

Zweifel bleiben bestehen

Diese Strategie der Heranführung ist allerdings innerhalb der Gemeinschaft nicht unumstritten. Im Frühjahr 1997 hatte ein Treffen führender europäischer Christlichdemokraten, unter ihnen auch Helmut Kohl, einen Beitritt der Türkei zur EU abgelehnt, und diese Haltung bestätigten kürzlich die Christlichdemokraten im Europäischen Parlament. Er habe gewisse Vorbehalte, die Türkei als ein echt europäisches Land anzuerkennen, stellte 1997 der Belgier Wilfred Martens fest, und er bezeichnete die Türkei als ein muslimisches Land, das in seinem Politikverständnis trotz Kemalismus weiter an Verhaltensmuster des autoritären ottomanischen Vorgängerreiches erinnere.

Neben diesen stark christlich-abendländisch begründeten Vorbehalten gegenüber einer EU- Mitgliedschaft der Türkei äussern andere Kreise erhebliche wirtschaftliche und integrationspolitische Zweifel. Wenn die Türkei als EU-Mitglied akzeptiert werde, gebe es kaum einleuchtende Gründe gegen eine Aufnahme der Ukraine oder Weissrusslands. Allein schon die wirtschaftliche Heranführung dieser Staaten an einen europäischen Standard, wird moniert, hätte jedoch schwer verkraftbare finanzielle Konsequenzen für die Gemeinschaft als Ganzes und die Nettozahler insbesondere. Wenn die EU diesen Schritt dennoch wage, stelle sich die rasch zu beantwortende Grundsatzfrage nach der politischen und geographischen Finalität der Gemeinschaft und letztlich nach einer Abstufung des Integrationsprozesses. Die Zyniker in der EU beruhigen hinter vorgehaltener Hand ihre skeptisch-nachdenklichen Kollegen, der Kandidatenstatus könne problemlos gewährt werden. Die Türkei werde die Vorbedingungen zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ohnehin nie erfüllen, aber die Gemeinschaft komme ihren vor langer Zeit eingegangenen Verpflichtungen gegenüber dem Land an der Nahtstelle Europas nach.

Sicherheitsinteressen

Indirekt im Zusammenhang mit der Entwicklung des politischen Verhältnisses der EU zur Türkei steht das Schicksal der europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Die Regierungs- und Staatschefs verabschiedeten das Anfang der Woche im Allgemeinen Rat verabschiedete Grundsatzpapier und bestätigten die Pläne, die erforderlichen institutionellen Strukturen im Rat zu schaffen sowie bis 2003 eine rasch mobilisierbare und mindestens ein Jahr durchhaltefähige europäische Eingreiftruppe in der Grössenordnung von 50 000 Mann aufzustellen, die Fähigkeiten zur strategischen Aufklärung und Führung aufzubauen und die nötigen Transportkapazitäten bereitzustellen. Soll diese europäische Verteidigungsidentität, wie das die grosse Mehrheit der Mitgliedstaaten will, tatsächlich glaubhaft subsidiär zur Nato wirken und operationell auch auf Nato-Ressourcen zurückgreifen können, ist die Gemeinschaft auf korrekte Beziehungen zu dem hinsichtlich militärischer Leistungsfähigkeit und strategischer Lage sicherheitspolitisch wichtigen Allianzpartner Türkei angewiesen.