Frankfurter Rundschau, 11.12.1999 Keine Tätlichkeiten, nur böse Turbulenzen In Helsinki gelang es wieder mal, durch ödes Gipfel-Ritual die historische Tragweite der Beschlüsse zu verdrängen Von Knut Pries (Helsinki) Vieles kann man der Europäischen Union vorwerfen, aber eines nicht: dass sie nicht wüsste, worum es geht. Es geht, da sind sich alle einig, um den Bürger. Und weil außerdem Weihnachten vor der Tür steht sowie ein ganz neues Jahrtausend, hat sich die EU in Gestalt der in Helsinki versammelten Staats- und Regierungschefs zu einer besonders schönen Bescherung der Bürger entschlossen: die "Millennium Declaration"! Den Inhalt kann man getrost vergessen - ein weiteres Phrasen-Häufchen, auf einem weiteren Gipfel von den bewährten Eunuchen der Kommunikation formuliert, das ein weiteres Mal resonanzlos am Adressaten vorbeirauschen wird. Es liegt wenig Risiko in der Vermutung: Dieser trübe Text, mit dem Finnland seiner EU-Präsidentschaft am Ende noch ein Glanzlicht aufzustecken meint, diese "Millenniumserklärung" und "der Bürger" werden nie zueinander finden. Ein Schaden ist das nicht - es gibt in Helsinki wahrlich Wichtigeres, das die Aufmerksamkeit des Publikums tatsächlich verdient. Der Gipfel hat Entscheidungen zu treffen, die das Gesicht Europas verändern werden. Am Ende soll eine Union stehen, die sich in alle Ecken des Kontinents erstreckt und teilweise womöglich darüber hinaus. Sie wird nach Spielregeln funktionieren, die nicht mehr viel mit denen gemein haben, die sich die Generation der Monnet, Schuman, Spaak oder Adenauer nach dem Krieg für das beschauliche Sechserklübchen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ausgedacht hat. Sie wird den Nationalstaaten weitere Kompetenzen entwunden haben, die traditionell das Prädikat "unverzichtbar" trugen; sie wird, wenn's gut, respektive nach den Vorstellungen des deutschen Außenministers Joschka Fischer geht, aus der "unipolaren" Welt eine bi- oder multipolare gemodelt haben, in der Europa politisch mit den übermächtigen Amerikanern in der berühmten "Augenhöhe" verhandelt; sie wird sogar militärisch eine gewisse unabhängige Aktionstüchtigkeit erreicht haben, deren praktische Folgen derzeit keiner übersieht. Nur: Wenn es darum geht, Beschlüsse zu derartigen Umwälzungen von allen Elementen wahrnehmbarer Spannung zu reinigen, macht der Union niemand was vor. Der EU-Jargon kleidet die Vorgänge in Begriffe von unüberbietbarer Sterilität: "Osterweiterung", "institutionelle Reform", "Regierungskonferenz", "Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik". Und wenn die Staats- und Regierungschefs die entsprechenden Entscheidungen treffen, packen sie das in ein ödes Gipfel-Ritual, in dem aufgesetztes Pathos an der falschen Stelle und hektischer Zank um Petitessen am Rande erfolgreich den Sinn für historische Tragweite betäuben. Auch in der finnischen Hauptstadt lassen sich die 15 die Chance zur Kleinkrämerei nicht entgehen. Pünktlich zum Gipfel haben Paris und London ihren Streit um die Wiederzulassung britischen Rindfleisches auf den kontinentalen Märkten so eskaliert, dass die Stimmung mindestens bilateral gründlich verhagelt ist. Beim traditionellen Vorab-Treffen der Euro-Sozialisten gehen der britische Premier Tony Blair und sein französischer Kollege Lionel Jospin miteinander um wie zwei rechtsschutzversicherte Nachbarn, die entschlossen sind, die Sache jetzt dem Anwalt zu übergeben. Wie lange haben die Herren miteinander gesprochen? "Das waren eher Minuten als Monate", heißt es säuerlich in der britischen Delegation. Und am nächsten Morgen - wie war die Atmosphäre im Saal? Da kommt selbst der eloquente Fischer ins Stottern: "Wir waren heute morgen . . . also, ich weiß nicht, was mit der Atmosphäre . . . es kam zu keinen Tätlichkeiten!" Der Verdacht muss auch bei einem zweiten Thema zerstreut werden, das zwar ebenfalls nicht unwichtig ist, aber doch irgendwie von minderer Dimension als die Weichenstellungen, um die es in erster Linie geht: Steuern und wie man verhindert, dass der eine Partner dem anderen das fiskalische Wasser abgräbt. Das ansonsten verabschiedungsreife Paket wird von den Briten blockiert. Deren Presse hat die Sache mal wieder zur Schlacht um England erklärt und der Labour-Regierung damit fast allen Verhandlungsspielraum weglamentiert. Auch mit dem fälligen klaren Wort zum russischen Krieg gegen Tschetschenien tun sich die 15 schwerer, als ihrem Ansehen zuträglich ist. Eine scharfe Verurteilung des Gemetzels muss sein, das ist allen klar. Aber wie weit kann, wie weit darf man in der gegebenen Lage den Weg der Sanktionen beschreiten? Muss man mit der Stornierung der Mittel aus dem "Tacis"-Hilfsprogramm drohen, den Krisen-Mechanismus des Partnerschaftsabkommens aktivieren, die Kooperation der Juni verabschiedeten EU-Russland-Strategie grundsätzlich in Frage stellen? Am 19. Dezember wird die neue Duma gewählt, und anders als beim unpopulären ersten Tschetschenien-Feldzug Mitte der 90er Jahre sehen sich diesmal auch die besonneneren Kräfte außer Stande, gegen das brutale Vorgehen der Militärs und der politischen Führung in Moskau offen Front zu machen. Je schärfer die EU reagiert, desto prekärer werden die Aussichten für die moderaten Parteien und Politiker, mit denen man in der nächsten Etappe zusammenarbeiten möchte - das Dilemma ist allen klar, eine überzeugende Lösung nicht. "Das Ganze ist natürlich jetzt schon ein Rückschlag von ein bis zwei Jahren", klagt ein EU-Außenpolitiker. Schließlich geraten die Gipfel-Strategen auch mit dem Projekt Nummer eins - Osterweiterung inklusive einer Beitrittsperspektive für die Türkei - in Turbulenzen. Dabei lässt sich die Geschichte so schlecht nicht an: Über die Absicht, nunmehr mit dem vollen Dutzend aktueller Bewerber in reguläre Verhandlungen über die Aufnahme in die EU einzutreten, bestand ohnehin Konsens. Das kann von den Chefs zügig abgesegnet werden. Schwieriger gestaltet sich der Versuch, der Türkei zu geben, was ein deutscher Regierungsvertreter "ein klares Anti-Diskriminierungssignal" nennt: den Status eines offiziellen Kandidaten für Mitgliedschaft. Erst nach langen Verhandlungen werden Formulierungen gefunden, die auch den Griechen die Zustimmung erlauben. Der Grenzkonflikt soll nötigenfalls vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag entschieden werden; eine Überwindung der Teilung Zyperns soll nicht mehr als unumstößliche Vorbedingung für die Aufnahme der Insel in die Union gelten - Ankara hätte in diesem Punkt keine Blockade-Möglichkeit mehr. Der Kommissionschef Romano Prodi ist zufrieden. Als der finnische Ministerpräsident Aavo Lipponen am Nachmittag die Entscheidung über den Kandidaten Türkei verkündet, preist der Italiener die "höchst bedeutsame Entscheidung". Auch Fischer freut sich: Endlich sei der diskriminierende Sonderstatus der Türkei vom Tisch. "Wir wollten den Schritt tun, über den wir monatelang diskutiert haben, und wir haben ihn getan . . . Das sorgt für eine neue Qualität." Oder auch nicht - die Reaktion aus Ankara ist so gemischt, dass der Gipfel den neuen außenpolitischen Chef-Manager Javier Solana und Günter Verheugen, Brüsseler Kommissar für Osterweiterung, an den Bosporus schickt, um zu sondieren, warum dort die Freude über das schöne Geschenk so verhalten ausfällt. Vielleicht hat Ankara ja einen Beobachter in jenem Briefing gehabt, auf dem ein deutscher Regierungsvertreter folgende bemerkenswerte Erklärung abgegeben hat: "Der Kandidatenstatus hat nichts zu tun mit der Mitgliedschaft."
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