Frankfurter Rundschau, 11.12.1999 Blaupause ohne Vision Aus Zufall und Denkfaulheit in die Rolle einer eurasischen Großmacht zu geraten, wäre das Schlechteste, was der EU widerfahren könnte Von Martin Winter Mit einem auf den ersten Blick erstaunlichen Mut geht die Europäische Union voran. Die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit nun zehn Staaten des ehemaligen sowjetischen Lagers im Osten und Südosten Europas sowie Zypern und Malta besitzt eine historische Dimension, die weit über die des Endes des Kalten Krieges und der deutschen Einigung hinausgeht. Wurden damals Ergebnisse der Geschichte dieses Jahrhunderts korrigiert, so haben die Staats- und Regierungschefs der Union nun in Helsinki eine Blaupause für das kommende Jahrhundert abgenickt. Eine EU nicht mehr aus 15, sondern aus mindestens 27 Staaten mit einer um ein Drittel größeren Landmasse und Bevölkerung. Eine EU, die in vielen Belangen die USA hinter sich lassen und bei der Regelung globaler Streitigkeiten unverzichtbar sein wird. Und eine EU, die mit dem Kandidatenstatus für die Türkei - wenn Ankara die gebotene Chance wirklich annimmt - ihre geographische Beschränkung auf Europa aufgibt. Mit einem Wort eine EU, die sich auf den Weg zur Großmacht begibt. Auf den zweiten Blick enthüllt sich, dass dieser Mut keiner visionären Politik entspringt. Die Frage nach dem Sinn der EU nämlich, also danach, was sie in Zukunft sein und wo sie ihre Grenzen ziehen will, bleibt auch nach Helsinki unbeantwortet. Die Blaupause der Erweiterung entpuppt sich bei genauem Hinsehen als nur eine Auflistung all jener, die energisch genug angeklopft haben. Tobte nicht seit Jahren Krieg auf dem Balkan, dann stünden wohl auch Serbien, Kroatien oder Albanien auf der Liste der Kandidaten. Weil man keinem so richtig Nein sagen will, sagt man allen irgendwie Ja und hofft heimlich, dass mancher Kandidat sich irgendwann angesichts der hohen politischen und ökonomischen Anforderungen einer EU-Mitgliedschaft doch in die Büsche schlägt, vor allem die mächtige Türkei, der gegenüber man besonders gerne unehrlich ist. Weil eine Vision fehlt und weil die EU deshalb in der Erweiterungsfrage nicht Treibende, sondern Getriebene ist, gerät die Union, die ja eine politische sein will, unmittelbar in Gefahr. Die Vertiefung, also die Integration auch auf den Feldern der Innen-, Justiz- und Außenpolitik, droht zum Opfer der Ausdehnung zu werden. Das Maß an Souveränitätsverzicht, zu dem sich durchzuringen die alten EU-Länder immerhin Jahrzehnte gebraucht haben, nun im Zeitraffer von Rumänien, Bulgarien oder auch Polen zu erwarten, wäre naiv. Um aber eine sich stark erweiternde EU nicht ganz auseinanderfallen zu lassen, müsste das Tempo der Integration verlangsamt werden. Vielleicht sogar auf null, schlimmstenfalls darunter, was in der Praxis Rückfall Richtung Freihandelszone bedeutet. Es ist kein Zufall, dass sich die heftigsten Befürworter einer grenzenlosen Erweiterung unter den britischen Konservativen finden, die die Integration immer abgelehnt haben. Mag man sich im Fall der osteuropäischen Länder noch mit dem Hinweis beruhigen, dass die Aufnahmen nicht auf einen Schlag, sondern über mehrere Jahre verteilt erfolgen und damit vielleicht leichter zu verkraften sein werden, im Falle der Türkei ist das eine ganz andere Sache. Mit dem Ankara erteilten Kandidatenstatus ist eine Entwicklung in Gang gesetzt worden, über deren Folgen sich die Regierungen nicht im Klaren zu sein scheinen oder sein wollen. Es ist zwar so, dass man den Türken in den vergangenen Jahren die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt hat, aber es ist eben auch so, dass die Aufnahme eines so großen und menschenreichen Landes - selbst, wenn es alle demokratischen und rechtsstaatlichen Vorbedingungen erfüllte - den Charakter der EU grundlegend zu verändern geeignet wäre. Über diese Veränderungen zu diskutieren, ist allerhöchste Zeit. Eine EU als Großmacht mit einem Bein in Vorderasien kann und darf nicht behandelt werden wie die Bananenordnung, sondern muß öffentlich diskutiert werden. Am Ende sind es schließlich die Völker, die die Beschlüsse der Politiker tragen müssen. Die offizielle Einbeziehung der Türkei in den Kreis der Kandidaten wird der EU eine neue Welle von Bewerbungen bescheren - selbst wenn ihr daraus keine Mitgliedschaft erwächst. Die Ukraine, Georgien und andere kaukasische Republiken werden um Gleichbehandlung nachsuchen. Was wird man ihnen mit Fug und gutem Gewissen sagen können? Was die Europäische Union dringender als die Erweiterung braucht, ist eine Pause zum Nachdenken über sich selbst. Nur wer weiß, wo er hin will und wo seine Grenzen liegen, kann aktiv gestalten. Wobei die Definition von Grenzen, wenn sie keinen konfrontativen Zug annehmen soll, durch eine Politik ergänzt werden muss, die die Nachbarn und darunter auch die großen - wie Russland, Ukraine und eventuell Türkei - zum gegenseitigen Nutzen an die EU anbinden, ohne sie einzubinden. Für den Augenblick jedoch scheint die Politik lieber die Bestimmung der Grenzen der EU der Geschichte überlassen zu wollen. Diese Politik schafft mehr Gefahren als Lösungen. Aus Zufall und Denkfaulheit in die Rolle einer eurasischen Großmacht zu geraten, wäre das Schlechteste, was der EU widerfahren könnte.
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