Tagesspiegel, 11.12.1999 Eine Einladung zum Wandel an die Türkei Albrecht Meier Stehen jetzt die Türken vor Berlin? Man mag sich nicht immer für die Dinge, die in der Europäischen Union verhandelt werden, interessieren. Da werden Kommuniques verfasst zu Krieg und Frieden, Beschlüsse zu Wachstum und Beschäftigung, da geht es um BSE und Steuern - alles sehr kompliziert und zäh. Aber mit der Vorstellung, die Türkei könnte irgendwann Mitglied in der Europäischen Union werden, kann jeder etwas anfangen, mancher wird es sich vielleicht mit Schrecken vorstellen. Die Einladung, die der Gipfel von Helsinki an die Türkei ausgesprochen hat, ist tatsächlich von großer Tragweite. Und sie ist keineswegs nur etwas für die Stammtische: In Helsinki haben die europäischen Staats- und Regierungschefs - also auch der griechische Ministerpräsident Kostas Simitis - der Regierung in Ankara das reale Angebot gemacht, sie mit den übrigen zwölf Beitrittskandidaten gleichzustellen. Ein Angebot, das man eigentlich nicht ablehnen kann - denn es ist ernst gemeint. Freilich wäre auch niemand überrascht, wenn der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit das Angebot beiseite wischen würde. Schließlich ist er es gewesen, der 1974 den türkischen Einmarsch auf Zypern politisch verantwortete. Und Zypern ist nun einmal der Hauptgegenstand des Streits zwischen der Türkei und Griechenland. Derzeit wird bei den Vereinten Nationen in New York und eben auch beim EU-Gipfel in Helsinki über künftige Lösungsmöglichkeiten für das Zypern-Problem gesprochen. Die EU hat bei der Einladung an die Türkei große Rücksicht auf Griechenland genommen. Nun liegt der Ball wieder im Feld der Türkei. In Ankara wird sich letztlich entscheiden, wie ernst es der türkischen Regierung mit dem Beitrittswunsch wirklich gewesen ist. Egal, wie der Polit-Poker zwischen Helsinki und Ankara an diesem Wochenende ausgeht: Das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei wird sich geklärt haben. Lehnt der türkische Ministerpräsident Ecevit das Angebot aus Helsinki ab, dann würde er damit auch die grundsätzlichen Schwierigkeiten der Türkei mit der Abgabe von Souveränitätsrechten dokumentieren. Stimmt er zu, dann würde auch die EU auf lange Sicht ihren Charakter verändern. Mit der Beitrittskandidatur würde die Türkei nämlich nicht nur einen symbolischen Prestigegewinn erzielen, sondern auch in den Genuss handfester Vorteile kommen, etwa der Teilnahme an EU-Wissenschaftsprogrammen. Hinzu kämen regelmäßige Treffen mit den übrigen zwölf EU-Beitrittskandidaten - und auf lange Sicht irgendwann der Beitritt. Schließlich gilt die Beitrittskandidatur auch als entscheidendes Billet für den Eintritt in die EU. Diese Strategie muss die EU allein schon deshalb verfolgen, um nicht der Heuchelei bezichtigt zu werden. Wenn sie sich nicht vorhalten lassen will, es nicht ganz ehrlich zu meinen mit der Türkei. Nun würde auf einem Weg der Türkei in die EU vor allem ein Stolperstein liegen - die Menschenrechte. Und deshalb werden die EU-Staatenlenker in Helsinki auch nicht müde zu betonen, dass vor der Aufnahme formeller Beitrittsgespräche das Kurdenproblem gelöst werden müsste. Die Türken also dann doch irgendwann vor Berlin? Die heutige Türkei ist jedenfalls nicht beitrittsfähig. Aber es fällt gegenwärtig auch schwer, sich die Türkei von morgen in der EU vorzustellen. Die Türkei ist ein laizistischer Staat, gewiss. Aber auch einer, der sich schwer tut im Umgang mit Minoritäten, mit der Vereinbarung verschiedener Kulturen, mit dem, was man in der Diplomatensprache "give and take" nennt. Genau das machen auch die schwierigen Verhandlungen zwischen Helsinki und Ankara deutlich.
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