Tagblatt (CH), 11.12.1999 «Die EU erachtet uns ihres Wartezimmers wert» Die Europäische Union hat der Türkei gestern an ihrem Gipfel in Helsinki den Status eines EU-Kandidaten gewährt. Ein Termin für Aufnahmeverhandlungen wurde nicht beschlossen. Jan Keetman/Istanbul Die türkische Öffentlichkeit hat die EU-Entscheidung mit Spannung erwartet, auch wenn die Europadebatte erst beginnt. Die Boulevardzeitung «Sabah» schreibt: «Das Ja von Helsinki heisst nicht, dass wir nach Europa hereingelassen werden, sondern dass wir für Wert erachtet werden, im Wartezimmer zu warten. Wir werden 15 oder 20 Jahre warten, bis wir für die EU alle Kriterien erfüllen, die Europäer zu Europäern machen.» Problem Nationalismus Ismet Berkan, Kommentator der linksliberalen Zeitung «Radikal» fragt: «Sind wir bereit?» und schreibt: «Glaubt den Leuten nicht, die sagen, die EU nimmt uns nie auf. Ihre Mitgliedschaft kann nur die Türkei selbst erreichen. Niemand anderer als wir selber können uns zum Mitglied machen und niemand anderer kann es verhindern.» Als Hauptproblem sieht Berkan nicht den Islam, sondern den kamalistischen Nationalismus der Regierung Ecevit: «Die nationalistischen Republikaner sind weit davon entfernt, ihren Geist zu ändern, der eigentliche Widerstand gegen die EU wird aus ihren Reihen kommen.» Wirtschaftliche Hindernisse Hüsamettin Kavi, Chef der Istanbuler Industriekammer, beschreibt in der liberalen «Milliyet», drei Gründe weshalb sich die EUvor Ankara fürchte: «Erstens wäre die Türkei, wenn sie entsprechend ihrer Einwohnerzahl in EU-Institutionen vertreten wäre, eine grosse Macht. Zweitens hätte sie wegen ihres tiefen Prokopfeinkommens Anspruch auf Finanzhilfen und drittens könnte die Freizügigkeit für Türken die Probleme auf dem EU-Arbeitsmarkt verschärfen.»
|