Berliner Zeitung, 11.12.1999

Kommentar

EU stellt der Türkei den Beitritt zur Gemeinschaft in Aussicht

Staats- und Regierungschefs dehnen Erweiterungsverhandlungen auf insgesamt zwölf Länder aus / Sanktionsdrohung gegen Russland

Ruth Berschens und Bettina Vestring

HELSINKI, 10. Dezember. Die Europäische Union hat am Freitag Russland überraschend deutlich mit Sanktionen für den Fall gedroht, dass es sein Ultimatum an die Bevölkerung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny umsetzt. In einer vom EU-Gipfel in Helsinki verabschiedeten Erklärung hieß es, in einem solchen Fall sollten einige Vereinbarungen des Partnerschaftsabkommens ausgesetzt und Handelsverträge strenger ausgelegt werden. Das Ultimatum an die Zivilbevölkerung in Grosny sei "vollkommen inakzeptabel", so die Erklärung. "Der Kampf gegen Terrorismus kann unter keinen Umständen die Zerstörung von Städten, die Vertreibung ihrer Einwohner und die Verurteilung der gesamten Bevölkerung als terroristisch rechtfertigen." Russlands Premier Wladimir Putin zeigte sich von den angedrohten Konsequenzen unbeeindruckt. Am Abend sagte er, Russland werde an seiner Taktik festhalten.

Der Türkei hat die Union angeboten, sie als gleichberechtigten Kandidaten für eine künftige Mitgliedschaft in der Gemeinschaft zu akzeptieren. Bei ihrem Gipfeltreffen einigten sich die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Länder am Freitag nach schwierigen Verhandlungen auf eine Erklärung zu den Beitrittsaussichten der Türkei. Darin sichert die Union Ankara zu, die Türkei werde nach denselben Kriterien behandelt wie die übrigen zwölf EU-Anwärter. Auf Drängen Griechenlands enthält der Text allerdings Hinweise auf Menschenrechtsprobleme in der Türkei, auf die Grenzstreitigkeiten in der Ägäis und auf den EU-Beitritt Zyperns. Die Union will erst Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen, wenn das Land die politischen Bedingungen für eine Mitgliedschaft - unter anderem Achtung der Menschenrechte und der Rechte der kurdischen Minderheit - erfüllt.

Aus türkischen Regierungskreisen verlautete am Freitag abend, Ankara sehe das EU-Angebot als vorteilhaft an. Der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit wollte am Sonnabend nach Helsinki reisen, hieß es. Bundeskanzler Gerhard Schröder sagte nach einem Telefonat mit Ecevit, er sei "vorsichtig optimistisch", dass Ankara das Angebot annehme. Die beiden EU-Außenpolitiker Javier Solana und Günter Verheugen trafen noch am Freitagabend in Ankara ein, um dort den Beschluss der EU zu erläutern. Bundesaußenminister Joschka Fischer bekräftigte in Helsinki, nach dem jetzt gefassten Beschluss werde die Türkei in keiner Weise mehr diskriminiert: "Dies ist ein wirklicher Schritt nach vorne", sagte er.

Zinsbesteuerung gescheitert

Auch in Bezug auf die übrigen Kandidaten traf der Helsinki-Gipfel wichtige Entscheidungen: Wie erwartet beschlossen die Regierungschefs, Anfang 2000 mit sechs weiteren Anwärtern Beitrittsverhandlungen aufzunehmen. Die EU verhandelt dann mit zehn osteuropäischen Ländern und den beiden Mittelmeerinseln Zypern und Malta.

Gescheitert ist in Helsinki das Vorhaben einer EU-Regelung zur Zinsbesteuerung. Großbritanniens Schatzkanzler Gordon Brown weigerte sich, einem Kompromissvorschlag zuzustimmen. Bundesfinanzminister Hans Eichel reagierte verärgert auf das britische Veto: "Ich bin außerordentlich enttäuscht." Das Problem wurde auf den Juni kommenden Jahres für den EU-Gipfel im portugiesischen Porto vertagt.