Die Welt, 11.12.1999

Gastkommentar

Die Türkei ist anders

Von Wulf Schönbohm

Vor wenigen Tagen hat das türkische Parlament beschlossen, das seit der Gründungszeit der Republik bestehende Gesetz zu ändern, wonach Beamte praktisch vor Strafverfolgung geschützt werden, weil die erforderlichen Genehmigungen der Vorgesetzten vor Anklagehebung nicht oder zu spät gegeben wurden. Auf diese Verschleppungstaktik können kriminelle Beamte, die der Korruption oder der Menschenrechtsverletzung verdächtigt sind, künftig nicht mehr bauen. In Izmir stehen seit einigen Wochen zwei Polizeibeamte vor Gericht, die einen Verdächtigen nachts in seiner Wohnung erschossen haben. Ein übereifriger Staatsanwalt, der in Ankara eine Frau wegen einer Lappalie nachts festnehmen lassen wollte, wird strafversetzt.

Die Regierungskoalition, die seit April dieses Jahres im Amt ist, bekämpft entschlossen derartige Missstände. Vor einigen Monaten wurde die Strafe für Folter heraufgesetzt, und Ärzte, die im Zusammenhang mit Foltervorwürfen falsche Gutachten abgeben, werden ebenfalls streng bestraft. Nicht nur der ehemalige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereins, Birdal, wurde aus dem Gefängnis entlassen, auch 25 Journalisten konnten die Gefängnisse verlassen.

Der Aufruf des zum Tode verurteilten PKK-Chefs Öcalan, den bewaffneten Kampf zu beenden, wird von den PKK-Kämpfern weitgehend befolgt, so dass sich die Lage in den Kurdengebieten entspannt. Erstmalig besteht die Hoffnung, dass dort Frieden einzieht und der Ausnahmezustand in den betroffenen Provinzen schrittweise aufgehoben werden kann. In der Provinz Siirt ist dies gerade geschehen. Das ist wichtig, weil erfahrungsgemäß Menschenrechtsverletzungen vor allen Dingen in den Provinzen stattfinden, in denen der Ausnahmezustand herrscht. Die EU kann auch sicher sein, dass Öcalan aus innen- und außenpolitischen Gründen nicht gehängt wird, sollte jetzt aber keine entsprechenden formellen Beschlüsse von der Türkei verlangen.

Die Entscheidung auf dem EU-Gipfel in Helsinki, der Türkei den Beitrittsstatus anzubieten, wird im Land einen politischen Reformschub zur Folge haben. Alle Verantwortlichen wissen, dass dies die erste und letzte Chance für die Türkei ist, die erforderlichen Reformen zur Erfüllung der Kopenhagen-Kriterien durchzusetzen. Diejenigen Kräfte in der Türkei, die bisher die Reformen zur Sicherung des Rechtsstaates, zur Garantie der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte verhindert haben, werden in die Defensive geraten. Diejenigen in der EU, die darauf hoffen, dass die Türkei zu diesen Reformen nicht in der Lage ist oder viele Jahre braucht, werden sich täuschen, weil sie den Reformschwung und die Dynamik der westlich orientierten Kräfte in Politik, Medien, Wirtschaft und Militär unterschätzen.

Viele ausländische Beobachter haben nach der Parlamentswahl am 18. April auch vorausgesagt, dass diese Koalition eher europafeindlich und reformunfähig sei. Genau das Gegenteil ist wahr. Die neue Regierung hat mit ihrer großen Mehrheit im Parlament in erstaunlich kurzer Zeit grundlegende Reformgesetze zur Sanierung des Haushalts, zur Ankurbelung der Wirtschaft und zur Sanierung der

sozialen Sicherheitssysteme verabschiedet. Ich halte es daher für wahrscheinlich, dass die Türkei die Kopenhagener Beitrittskriterien auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet eher erfüllen wird als etwa Rumänien oder Bulgarien.

Als Folge der gerade beschlossenen EU-Erweiterung wird die gesamte Struktur und das Finanzierungs- und Ausgabensystem der Europäischen Union grundlegend überholt werden müssen. Es bietet sicher daher an, rechtzeitig auf die früheren Vorstellungen von Schäuble/Lamers zurückzukommen, die von einem Kerneuropa mit hohem Integrationsgrad und einem weiteren Kreis von EU-Mitgliedern ausgehen, die weniger stark integriert sind und auch weniger Rechte und Pflichten haben. In solch eine strukturell und konzeptionell veränderte EU würde auch die Türkei passen, die als Mitglied für die EU unter strategischen und geopolitischen Gründen mindestens so wichtig ist, wie es die baltischen Staaten Bulgarien und Rumänien oder Malta sind.

Der weitgehende Souveränitätsverzicht, der für die Türkei mit der EU-Mitgliedschaft verbunden ist, verlangt von ihr einen radikalen Umdenkungsprozess. Denn auf Grund ihrer geopolitischen Lage hat sie bisher keinerlei Erfahrungen gemacht mit nachbarschaftlicher Kooperation, geschweige denn Integration. Nationale Souveränität ist für die Türkei auf Grund ihrer leidvollen Erfahrungen mit ausländischen Mächten in osmanischer Zeit immer noch ein hohes Gut. Nun gibt der Kandidatenstatus ihr erstmals eine faire Chance, beweisen zu können, dass sie fähig ist. Diese Chance haben das Land und seine Bürger verdient.

Dr. Wulf Schönbohm war Leiter der Grundsatzabteilung in der CDU-Bundesgeschäftsstelle. Er arbeitet und lebt seit 1997 in Ankara.