Frankfurter Rundschau, 13.12.1999 Der Schritt in Richtung Europa lässt Hoffnung wachsen In der Türkei feiern fast alle den Beschluss von Helsinki, nur die Rechten warten mit skeptischen Prognosen auf Von Gerd Höhler (Athen) In der Türkei herrscht Hochstimmung. Die Medien beglückwünschen Premier Bülent Ecevit zur EU-Kandidatur des Landes, der Aktienindex schnellt nach oben, und die kurdische Arbeiterpartei PKK spürt den "Wind des Wandels". "Ganz besonders gefreut" über die in Helsinki beschlossene EU-Kandidatur der Türkei habe sich Abdullah Öcalan, behauptet die Istanbuler Zeitung Sabah. Woher die Reporter das wussten, blieb unklar; schließlich sitzt der zum Tode verurteilte PKK-Chef in strenger Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali. Aber stimmen könnte es. Öcalan hofft, dass ihm die Hinrichtung erspart bleibt, wenn die Türkei näher an Europa rückt. Die Rechnung scheint aufzugehen. "So schnell wie möglich" wolle man nun darangehen, die Todesstrafe abzuschaffen, versprach der türkische Premier Ecevit. Wie schnell hängt vor allem von seinem Koalitionspartner, der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) ab. Sie forderte erst vergangene Woche die Hinrichtung des PKK-Chefs. Das Thema könnte in den kommenden Wochen noch zu Konflikten führen. Zunächst aber herrscht allgemeiner Jubel. Fast einstimmig gratulieren die türkischen Medien dem Premier und seinem Außenminister Ismail Cem zu dem von ihnen errungenen "Sieg der türkischen Diplomatie", so die liberale Zeitung Radikal. Das Blatt erschien zur Feier des Tages ganz in der Europafarbe blau. "Jetzt sind wir Europäer!" triumphierte das Massenblatt Sabah, einen "historischen Schritt" sieht die Zeitung Hürriyet. Die Islamisten-Postille Akit glaubt, dass sich nun das innenpolitische Klima wandelt: "Die Schikanen werden ein Ende haben." "Frieden und Wohlstand" werde die EU-Kandidatur der Türkei bringen, hofft das pro-kurdische Blatt Özgür Bakis. Auf den "Wind des Wandels", den Abdullah Öcalan bereits vergangene Woche zu spüren glaubte, setzt auch die PKK. In einer am Samstag verbreiteten Erklärung des im europäischen Exil residierenden Führungsrats der Organisation heißt es, Ankara müsse nun eine politische Lösung der Kurdenfrage suchen. Die Istanbuler Börse ist seit Freitag in Hochstimmung. Als die gute Nachricht aus Helsinki kam, stieg der Aktienindex um knapp elf Prozent auf ein neues Jahreshoch. Auch der Tagesumsatz erreichte mit 1,2 Milliarden Euro einen Rekord. Von der allgemeinen Euphorie ließ sich auch Ecevit anstecken. Nun sei klar geworden, dass es "kein Europa ohne die Türkei und keine Türkei ohne Europa" geben könne. Andere sind da weniger optimistisch. Die der MHP nahe stehende rechtsradikale Zeitung Ortadogu hatte schon am Tag vor dem Gipfel ihre Leser mit einer ernüchternden Prognose konfrontiert: "Kandidat ja, Mitglied niemals!"
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