Süddeutsche Zeitung, 13.12.1999 "Wir sind in Europa" Die türkischen Zeitungen feiern den Kandidatenstatus, aber der Weg zum EU-Beitritt wird für das Land beschwerlich werden Von Wolfgang Koydl Istanbul - Die beiden türkischen Ex-Premiers Tansu Ciller und Mesut Yilmaz müssen sich die Haare gerauft, oder - sofern sie akrobatisch veranlagt sind - ganz andere Verrenkungen gemacht haben. Es war aber auch zu ärgerlich: Sie hatten es nie geschafft, auf das so heiß ersehnte Familienfoto mit den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zu kommen. Dies gelang ausgerechnet dem 76-jährigen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Derweil Ciller und Yilmaz sich jahrelang als überzeugte Europäer gebärdeten, stand Ecevit Europa stets kritisch bis ablehnend gegenüber. Er war es auch, der als Regierungschef vor fast einem Vierteljahrhundert eine erste Einladung der Europäer an die Türkei ausgeschlagen hatte. Insofern ist es in der Tat eine Ironie des Schicksals, dass Ecevit beim EU-Gipfeltreffen im finnischen Helsinki vor dem nachtblauen Tuch mit den Europa-Sternen zum Gemeinschaftsfoto antrat. Spannend war es auch diesmal bis zur letzten Minute gewesen. Denn dass die Türkei die EU-Einladung annehmen würde, war alles andere als selbstverständlich. Umso größer waren Jubel und Erleichterung, als der Deal perfekt war. Die Titelseiten der Zeitungen verzichteten auf die türkischen Farben Rot und Weiß und ertranken schier im europäischen Blau. "Wir sind Europäer", jubelte Posta. "Wir sind in Europa", pflichtete Radikal bei. Milliyet sprach vom "Treffen des Jahrhunderts", und ausgerechnet die im Kampf gegen die Islamisten besonders bissige Hürriyet posaunte: "Der erste muslimische Kandidat". Doch mehr als die Euphorie erstaunt der Realismus, der über Nacht in der Türkei Einzug gehalten hat. "Der Weg bis zu einem Beitritt ist lang und schwierig", hieß es im Außenministerium, und Bülent Ecevit nahm gar das Unwort von den "Hausaufgaben" in den Mund, welche Ankara jetzt erledigen müsse. Bisher galt: Wer die Türken zutiefst beleidigen wollte, der musste sie nur an diese leidige Hausaufgabenpflicht erinnern. In der Tat hat die Türkei noch einen langen Weg zurückzulegen, der zudem mit Minen, Fußangeln und Fallen gepflastert ist. Denn sowohl politisch als auch ökonomisch erfüllt das Land die EU-Bedingungen bei weitem nicht. Eine der spannendsten Fragen dürfte zudem sein, ob das starke Militär bereit ist, freiwillig seine politische Macht abzugeben. Sicher ist lediglich, dass eine Türkei, welche die Anforderungen Europas erfüllt, ein anderes Land als heute sein wird. Manche Europäer wiegen sich im sicheren Bewusstsein, dass die Türkei die Aufgaben ohnehin nicht bewältigt und daher nie Mitglied wird. Doch wer so denkt, verkennt Pragmatismus und Anpassungsfähigkeit der Türken. Ein politischer Beobachter in Istanbul erwähnte in diesem Zusammenhang einen alten Witz: "Krisensitzung im israelischen Parlament, der Staat ist pleite, die Wirtschaft am Boden. Der Finanzminister sieht nur einen Ausweg: ,Wir müssen Amerika den Krieg erklären. Wir verlieren, und Amerika baut unser Land wieder auf.' Alle sind einverstanden, bis auf den Verteidigungsminister: ,Gut, aber was ist, wenn wir gewinnen?'" Europa sollte sich mit dem Gedanken anfreunden, dass die Türkei sich qualifiziert.
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