Süddeutsche Zeitung, 13.12.1999 Türkei dringt auf raschen Beitritt zur EU Regierungschef Ecevit: Wir haben umfassende Reformen eingeleitet / Bedenken bei deutschen Europapolitikern Helsinki - Die Türkei dringt nach der Aufnahme in den Kreis der Kandidaten auf einen raschen Beitritt zur Europäischen Union. Der türkische Regierungschef Bülent Ecevit prophezeite zum Abschluss der EU-Gipfelkonferenz in Helsinki, sein Land werde schneller Mitglied werden als manche erwarteten. Aus den Reihen deutscher Europa-Parlamentarier wurde dem vehement widersprochen. Im Frühjahr 2000 nimmt Brüssel mit weiteren sechs der nunmehr 13 Beitrittskandidaten Verhandlungen auf. Eine Regierungskonferenz soll bis Ende des nächsten Jahres die für die Erweiterung notwendigen inneren Reformen ausarbeiten. Von Udo Bergdoll Der Tschetschenien-Krieg und die Frage, ob die Türkei aus übergeordneten strategischen Gründen den Status eines Beitrittskandidaten erhalten soll, dominierten das Gipfeltreffen der Staats-und Regierungschefs in der finnischen Hauptstadt. Es blieb wenig Raum für eingehende Diskussionen über den verabschiedeten Fahrplan zur Aufstellung einer selbstständigen Krisenreaktionstruppe. Auch die Debatte über das Ausmaß der institutionellen Reformen, ohne die eine stark nach Osten und Südosten erweiterte Europäische Union nach Einschätzung der heutigen Mitglieder große Probleme bekommen könnte, spielte keine wesentliche Rolle. Nach einem Mittagessen im Kreis der Vertreter der 15 EU-Staaten und der 13 Beitrittskandidaten sagte Ecevit, seine Regierung habe schon umfassende Reformen eingeleitet. Er strebe die Abschaffung der Todesstrafe an, auch wenn es darüber noch keine Einigung mit seinen Koalitionspartnern gebe. "Sehr muntere Diskussionen" Bundeskanzler Gerhard Schröder hatte zuvor die Aufnahme von Verhandlungen mit Ankara an die Achtung der Menschenrechte in der Türkei geknüpft. Weitere Voraussetzung sei die Festigung der Demokratie und der Marktwirtschaft. Die deutschen Initiatoren des Angebots an die Türkei rechnen mit einem Prozess, der Jahrzehnte dauern wird und dessen Ergebnis von Ankara abhängt. Der Ball sei nun wieder im Feld der Türkei, interpretiert Berlin die Entscheidung des Gipfels von Helsinki. Zur Todesstrafe sagte der EU-Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik Javier Solana, es sei schwierig, ein Mitglied der europäischen Familie zu haben, das dem Recht auf Leben nicht denselben Wert beimesse wie die anderen EU-Mitglieder. Über den EU-Beitritt wird nach Helsinki nun konkret mit Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Rumänien, Bulgarien, Malta und Cypern verhandelt. Ankara muss noch warten. Schröder reagierte drastisch auf Fragen, ob einige Länder nicht nur auf einen Geldsegen aus Brüssel spekulierten: "Die sollten nicht an den Nikolaus glauben." Wenn die EU bis Ende 2000 die Voraussetzungen für die Erweiterung auf mehr als 25 Mitglieder geschaffen haben will, wird es nach Einschätzung der Bundesregierung bald "sehr muntere Diskussionen" geben. Bei der Regierungskonferenz geht es um die Größe und die Zusammensetzung der Kommission, die Stimmengewichtung im Rat und die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen. In Helsinki setzte sich die Position durch, man müsse schnell voran kommen und deshalb auf eine umfassende Reform verzichten, wie sie Kommissionspräsident Romano Prodi und das Europa-Parlament anstrebten. In Berlin denkt jetzt auch die rot-grüne Koalition - wie vor Jahren die CDU - über die Möglichkeit "konzentrischer Kreise" nach. Schröder sagte, "Flexibilität" sei "durchaus interessant". Hinter diesem Begriff verbirgt sich die Vorstellung von einem Europa, das sich unterschiedlich schnell integriert und bei dem ein Kerneuropa nicht mehr auf die Nachzügler wartet. Hinsichtlich des Tschetschenien-Kriegs sahen sich die EU-Staaten in der unangenehmen Lage, Russland einerseits zu verurteilen, andererseits aber nicht mit Moskau zu brechen. Die Androhung von "Konsequenzen" politischer Art, von einer Verschlechterung der Beziehungen bis zur Aussetzung von Zahlungen, bedeutet für die EU einen Schritt hin zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Gegen einen baldigen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sprachen sich in Reaktion auf das Gipfeltreffen in Helsinki die Europa-Parlamentarier der SPD Willy Görlach und Martin Schulz aus. Sie rechnen mit mehreren Jahrzehnten bis zur Aufnahme. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger hielt der EU vor, möglicherweise einen "sehr risikoreichen Weg" beschritten zu haben.
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