Frankfurter Rundschau, 13.12.1999 Skepsis gegen Türkei-Kandidatur Europa-Politiker warnen vor Risiko / Ecevit strebt schnelle Mitgliedschaft an Von Martin Winter Die Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidat ist von deutschen Politikern ablehnend kommentiert worden. Der türkische Premier Bülent Ecevit kündigte an, innere Reformen zu beschleunigen und Territorialstreitigkeiten mit Griechenland zu lösen, damit sein Land schnell Vollmitglied werden könne. HELSINKI, 12. Dezember. Die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Länder haben zum Abschluss des Gipfels in Helsinki ihr Treffen als "historisch" gelobt. Mit den Beschlüssen über den weiteren Prozess der Erweiterung und der damit notwendig einhergehenden institutionellen Reformen würden die "Geographie und die Geschichte Europas endlich versöhnt", sagte der luxemburgische Ministerpräsident Jean Claude Juncker. Der Präsident der EU-Kommission, Romano Prodi, sprach von einer "neuen Ära für die EU". Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) mahnte, dass man nach "diesen historischen Beschlüssen" nun in eine "Phase der Konsolidierung kommen" müsse. Die Türkei hatte nach einem komplizierten diplomatischen Hin und Her den ihr von der EU angebotenen Kandidatenstatus am frühen Samstagmorgen akzeptiert. Mit dem Land gibt es noch keine Verhandlungen, weil es die politischen Voraussetzungen in Bezug auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht erfüllt. Jenen in der EU, die glauben, dass es sehr lange dauern werde, bis die Türkei mitgliedsfähig sei, widersprach Ecevit mit der Bemerkung, das würde in "viel kürzerer Zeit" geschafft werden, legte sich aber auf keine Jahreszahl fest. Er erinnerte die EU an die "geostrategische Bedeutung" seines Landes in Bezug auf die Sicherheit und auf den Zugang zu dem "Gas- und Ölreichtum des Kaspischen Meeres und des Kaukasus". Den Grenzstreit mit Griechenland in der Ägäis ist Ecevit bereit, durch "Dialog", notfalls aber auch durch einen Entscheid des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag beizulegen. In der Zypernfrage scheint er der EU kaum entgegenkommen zu wollen. Er lobte die international nicht anerkannte Teilung der Insel als das Beste, was Zypern widerfahren konnte. US-Präsident Bill Clinton begrüßte die Entscheidung der Türkei, den Kandidaten-Status anzunehmen. Auch der griechische Premier Kostas Simitis bezeichnete die Kandidatur als "sehr positiv". Die griechische Opposition warnte vor einem EU-Beitritt der Türkei. Auch führende Europapolitiker der SPD sprachen sich am Wochenende gegen einen raschen Beitritt der Türkei zur EU aus, berichteten Nachrichtenagenturen ergänzend. "Wer jetzt den Eindruck erweckt, der EU-Beitritt der Türkei könnte innerhalb der nächsten zehn Jahre erfolgen, der hat von der Realität absolut keine Ahnung", sagte der Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE), Willi Görlach, der Welt am Sonntag. "Wir könnten hier einen sehr risikoreichen Weg beschritten haben", sagte der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, Friedbert Pflüger (CDU), im NDR. Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Michael Glos, sprach von einer "krassen Fehlentscheidung" des EU-Gipfels. Um die Strukturen der EU auf die Aufnahme neuer Mitglieder vorzubereiten, wird von Februar 2000 an eine "Regierungskonferenz" über die notwendigen Veränderungen der Verträge beraten. In Helsinki wurde außerdem der Grundstein dafür gelegt, dass die EU eigenständige Militäroperationen durchführen kann, wenn die Nato nicht engagiert ist. In Brüssel werden ein politischer und ein militärischer Ausschuss eingerichtet werden. Bis Ende 2003 soll eine schnelle Eingreiftruppe von bis zu 60 000 Mann gebildet worden sein. Dies bedeute aber nicht die Schaffung "einer europäischen Armee", heißt es in der Schlusserklärung.
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