Die Welt, 14.12.1999 "Ein großes Experiment für die nächsten Jahre" Staatsminister Zöpel zum EU-Beitritt der Türkei Brüssel - Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Christoph Zöpel, wird der deutsche Verhandlungsführer bei den anstehenden Verhandlungen über die Reform der EU. Nikolaus Blome und Andreas Middel sprachen mit Zöpel über die deutsche Position, die Folgen der Osterweiterung und die Aufnahme der Türkei in den Kreis der Beitrittskandidaten. DIE WELT: Werden die Auflagen, die seitens der EU mit der Vergabe des Kandidatenstatus an die Türkei verknüpft sind, das Land nicht zerreißen? Christoph Zöpel: Die türkische Regierung, die sich zum Teil europäisch sieht, ist die treibende Kraft für die Annäherung an die EU. Aber es gibt andere Kräfte, die übertriebenem Nationalismus und religiöser Intoleranz anhängen. Das behindert einen Beitritt, der nur gelingen wird, wenn ein überwiegender Teil der türkischen Gesellschaft europäisch sein will. Ob das passiert, ist ein großes Experiment für die nächsten zehn bis 15 Jahre. DIE WELT: Und wie steht es mit dem Militär, das die Türkei auf Europakurs hält? Das müsste doch seinen immensen Einfluss aufgeben. Zöpel: Wenn der Beitrittsprozess dadurch begleitet würde, dass sich die türkischen Militärs innerhalb der Nato einmal orientieren, welche Rolle die Streitkräfte in Demokratien haben, wäre das schon sehr hilfreich. Es darf in Europa keine Rechte für die Armee geben, die nicht auch im Verteidigungs- oder Spannungsfall demokratisch legitimiert oder kontrolliert sind. DIE WELT: Der Gipfelbeschluss, die Türkei in den Kandidatenkreis aufzunehmen, wurde erkauft mit der Möglichkeit, notfalls auch ein geteiltes Zypern in die EU aufzunehmen. Ist der Preis nicht zu hoch? Zöpel: Ich halte das für keinen hohen Preis. Denn falls sich die Türkei im weiteren Prozess als nicht aufnahmefähig erweist, kann man nicht die Griechen auf Zypern dafür bestrafen, wenn sie voll beitrittstauglich sind. Drängt die Türkei aber in die EU, muss sie ein Interesse daran haben, dass der Konflikt auf Zypern gelöst wird. Beides führt zu dem Ergebnis, dass mindestens der griechische Teil Zyperns aufgenommen werden kann. DIE WELT: Die Aufnahme Zyperns in die EU und der Kandidatenstatus für die Türkei führt zur Frage nach den Grenzen Europas. Wo verlaufen die? Zöpel: Die künftigen Grenzen der EU haben sich im 19. Jahrhundert herausgebildet. Es sind die Länder westlich der ehemaligen Sowjetunion. In den nächsten zehn Jahren können diese Länder und ihre Völker zur EU gehören, einschließlich der Balten. Dabei stellt sich notwendig die Frage, wie das Verhältnis der EU zu den großen Nachbarn Russland, Ukraine und Türkei aussieht. Dieses Verhältnis muss auf Grund der Sicherheitsinteressen gestaltet werden. Wenn einer der Nachbarn sagt, wir wollen EU-Mitglied werden, kann die Union das nicht ausschließen. Sie wird mit ihm genauso verhandeln wie mit Tschechien, Ungarn, Polen oder Rumänien und Bulgarien. DIE WELT: Aber das verändert die EU doch von Grund auf. Zöpel: Sie wird dann nach innen wesentlich flexibler werden. DIE WELT: Also ein Zwei-Klassen-Europa? Zöpel: Kein Europa der zwei Klassen, aber ein Europa mit vielfältig unterschiedlichen Geschwindigkeiten. So können Länder zwar nicht der Euro-Zone angehören, aber in die Außen- und Sicherheitspolitik voll integriert sein. DIE WELT: Aber dadurch wird die EU nicht gerade verständlicher. Zöpel: Versuchen Sie doch einmal, einem normalen Nordrhein-Westfalen die Verwaltungsstruktur des Landes zu erklären. Er kennt sie nicht, aber das stört ihn nicht weiter, solange er dadurch nicht in seinem Berufs- oder Privatleben beeinträchtigt wird. Es hat keinen Sinn, politisch notwendige Regeln danach zu treffen, ob sie ein politisch mäßig interessierter Mensch kennt. Das gilt auch für Europa. DIE WELT: Im Jahr 2003 will die EU erweiterungsfähig sein. Wann werden die ersten Kandidatenländer beitrittsfähig sein? Zöpel: Ich glaube, dass zwei Jahre nach der Erweiterungsfähigkeit der EU die ersten Kandidatenländer beitrittsfähig sind, also 2005. DIE WELT: Wie viele Länder wird die EU denn im Jahr 2005 umfassen? Zöpel: Zwischen 16 und 25. Ich sage bewusst 25, weil Rumänien und Bulgarien bis dahin wohl noch nicht in der Lage sein werden, der EU beizutreten. Bei allen anderen halte ich es bei aktiver Mithilfe der jetzigen EU-Mitglieder für möglich. DIE WELT: Das wäre die größte Erweiterung in der Geschichte der EU. Wie passt das mit einer nur kleinen EU-Reform zusammen? Zöpel: Die Größe der Erweiterung ist relativ. Es kommt nur ein größeres Land dazu: Polen. Alle anderen Länder bringen eine überschaubare Zahl an Einwohnern mit. Ohne Bulgarien und Rumänien stoßen etwa 70 Millionen Menschen zur EU. Das ist weniger, als Deutschland Einwohner hat. Bei den Reformen geht es darum, so wenig Vetorecht und so viele qualifizierte Mehrheitsentscheidungen wie möglich zu schaffen. Das ist der Kernpunkt für die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft. DIE WELT: Bei der EU-Reform geht es auch um einen neuen Zuschnitt der Kommission. Wäre Deutschland bereit, auf einen zweiten Kommissar zu verzichten? Zöpel: Mit dieser Position gehen wir nicht in die Verhandlungen, da die Zahl und die Arbeitsweise nicht auf den Verhandlungstisch gehören.
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