Tagesspiegel, 14.12.1999 (Leitartikel) Weit mehr als ein Test für die Europatauglichkeit Lorenz Maroldt Endlich Kandidat! Das hatte die Türkei so lange schon gefordert; jetzt steht sie mit einem Bein im politischen Europa - und freut sich stolz. In den Ländern der Europäischen Union hält sich die Freude allerdings in Grenzen. Dabei hätte man doch auch hier gute Gründe, zufrieden zu sein. Die Ehrung der Türkei als ernst zu nehmender Kandidat für eine Mitgliedschaft in der EU wird dem zum Tode verurteilten PKK-Chef Öcalan wahrscheinlich das Leben retten; in der Ägäis und auf Zypern werden die Hitzköpfe sich abkühlen; in türkischen Gefängnissen wird demächst wohl etwas weniger geprügelt. Alles bestens? Endlich die richtige Entscheidung? Die Türkei zum EU-Beitrittskandidaten zu ernennen, war riskant. Beide Seiten haben einen politischen Tagesgewinn erzielt, aber den Preis kennen sie noch nicht. Europa und die Türkei kommen sich nur scheinbar näher. Jetzt sind beide Seiten gezwungen, klar zu benennen, was sie unterscheidet und was sie voneinander halten. Es wird Enttäuschungen geben. Für Deutsche und Türken bedeutet die Entscheidung deshalb: Das Zusammenleben hierzulande wird schwerer, nicht leichter. Die Europäische Union hat hohe Erwartungen und Befürchtung geweckt. Erwartungen vor allem in der Türkei: auf Hilfe, Verständnis, schnellen Beitritt. Während EU-Politiker abwiegelnd davon sprechen, über eine Aufnahme werde frühestens in zehn bis fünfzehn Jahren entschieden, keimen in der Türkei Hoffnungen, dies könnte bereits in fünf Jahren geschehen - oder noch früher. Ministerpräsident Ecevit sieht die geforderten Reformen innerhalb weniger Monate erledigt. Da bekommen es in Deutschland manche, die den Kandidatenstatus für die Türkei eben noch prima fanden, plötzlich mit der Angst zu tun. Die Großzügigkeit der EU ist in der Türkei als Selbstverständlichkeit missverstanden worden. Die Europäer meinen, türkisches Wohlverhalten billig zu bekommen, weil sie den Kandidatenstatus gerne als unverbindlichen Schnupperkurs verstanden haben wollen. Oder sie hoffen, dass die Türkei letztlich doch nicht alle Bedingungen für eine Aufnahme in die EU erfüllen kann; oder sie erwarten, dass die EU alsbald ihre Grenzen enger steckt - damit es keine grenzenlose Aussicht auf Asien gibt. Die Türkei wird seit Jahrzehnten mit Versprechungen hingehalten. Jetzt hat die EU hat unter politischem und moralischem Druck eine Vorleistung erbracht. Daraus wird ein neues Problem. Die Türkei könnte denken: Was jetzt klappt, kann auch beim Beitritt klappen. Das gefährdet die Reformen und verlockt zu neuen Ansprüchen. Die Folge ist neuer Druck - auf beiden Seiten. Schon bald, wenn die Türkei in Deutschland tausend Panzer bestellt. Spätestens dann, wenn die Türkei glaubt, nun sei es aber wirklich an der Zeit, dass sie Vollmitglied wird. Das wird so schnell nicht kommen. Die scheinbare Nähe kann beide Seiten ganz schön weit auseinanderbringen. Das wird man auch in Deutschland merken. Die harte Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft war nur ein Vorgeplänkel. Es leben mehr als zwei Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland, sie gehören zur größten Einwanderergruppe. Die Türkei ist kein Nachbarstaat. Aber sie liegt verhältnismäßig nah, ist verhältnismäßig groß und verhältnismäßig arm. Deshalb bekommt sie in Deutschland viel Aufmerksamkeit. Man mag den Erfolg der CDU-Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft bedauern - ignorieren kann man ihn nicht. Schon mit einem geringen propagandistischen Aufwand schaffte es die Union, eine Landtagswahl in einen Volksentscheid zu verwandeln - mit schlimmen Nebenwirkungen. Was erst würde passieren, wenn mit größerem Einsatz vor Millionen Türken gewarnt wird, die als EU-Bürger Wohnort und Arbeitsplatz frei wählen könnten? Dann würde die gefährliche Frage aufkommen, ob die Gemeinschaft der Türken in Deutschland integrationsfähig ist. Mehr noch: Wahrscheinlich würde die Zustimmung zur EU erschüttert werden. Deutschland ist nicht vorbereitet auf eine solche Debatte. Nach dem Gipfel von Helsinki geht es nun um weit mehr als nur darum, die Europatauglichkeit des Kandidaten Türkei zu prüfen.
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