Tagesspiegel, 14.12.1999 Politik und Presse jubeln. Das Volk nicht. Susanne Güsten Die Dezembersonne glitzert, der Muezzin schickt seinen Gebetsruf in einen strahlend blauen Himmel. Doch dafür haben die Menschen, die in der Schlange vor dem deutschen Konsulat in Istanbul stehen, weder Augen noch Ohren. Hier geht es Stunde um Stunde nur zentimeterweise voran. Wegen des Fastenmonats Ramadan können die Wartenden sich nicht einmal mit einem Glas Tee wärmen. Wer als Türke nach Deutschland reisen will - sei es zu Familienbesuchen, als Tourist oder Geschäftsmann -, der muss sich hier einreihen und Geduld haben. Egal, was die türkischen Zeitungen in ihren Jubel-Schlagzeilen zur Anerkennung der Türkei als EU-Beitrittskandidatin verkündet haben: Der Weg nach Europa ist nach wie vor verdammt weit und steinig. "Die EU-Kandidatur?", sagt die 20-jährige Özlem Akkuyu und zupft an ihrem Kopftuch. "Wenn dadurch dieser Hindernislauf etwas erleichtert würde, könnte das nicht schaden." Die Umstehenden stimmen in ihr Gelächter mit ein. Seit halb sechs Uhr morgens wartet die junge Frau vor dem Seiteneingang des Konsulats, der zur Visumsabteilung führt. Zur Mittagszeit ist sie noch immer gut zehn Meter von dem Drehtor entfernt, das zum Konsulatshof führt. Zum dritten Mal innerhalb von drei Monaten macht sie das nun schon, um ihren Ehemann in Deutschland besuchen zu können. Dass ihr die Ergebnisse des EU-Gipfels diesen beschwerlichen Weg erleichtern werden, glaubt Özlem Akkuyu ebenso wenig wie die anderen Menschen in der Schlange. "Jedenfalls nicht in den nächsten 20 Jahren", wirft sogar ein Polizist ein, der für Ruhe und Ordnung vor dem Konsulat sorgen soll. Mit ihrem nüchternen, oft bitteren Realismus unterscheiden sich die etwa 200 Menschen, die vor dem wilhelminischen Prachtbau in der Istanbuler Innenstadt warten, erheblich von der Politik und Presse ihres Landes, die den Kandidatenstatus feiern, als wäre er schon die Vollmitgliedschaft selbst. Als "großen Erfolg" und sogar als "Sieg" für die Türkei verkauft Ministerpräsident Bülent Ecevit das Gipfeldokument. "Wir sind in Europa", titelt eine angesehene türkische Zeitung. "Europa sagt: Willkommen Türkei", heißt es im Massenblatt "Hürriyet". Die Europa-Reisewilligen vor dem deutschen Konsulat nehmen solche Schlagzeilen nicht ernst. "Die Visumspflicht müsste wegfallen, wenn wir zu Europa gehören sollten", sagt der 59-jährige Rentner Ragip Tarhan, der nach 22-jähriger "Gastarbeit" in Stuttgart und trotz einer Bürgschaftserklärung seiner drei in Deutschland lebenden Kinder seit Wochen auf ein Besuchsvisum wartet. "Aber das werden sie nie machen." Tarhan erinnert daran, was Regierung und Leitartikler in ihrem Helsinki-Taumel unter den Teppich gekehrt haben: Selbst wenn die Türkei eines fernen Tages der Europäischen Union beitreten dürfte, müssten ihre Bürger noch immer hier vor dem Konsulat anstehen und ein Visum beantragen. Denn um europäische Ängste vor einem Massenansturm der Türken zu entkräften, hat sich Ankara bereit erklärt, im Falle einer künftigen Mitgliedschaft auf die Freizügigkeitsrechte zu verzichten, die in der Union sonst selbstverständlich sind. Freie Wohnsitz- und Arbeitsplatzwahl sowie visumsfreies Reisen durch Europa wird es deswegen für Türken selbst dann mindestens eine Generation lang nicht geben, wenn sie wirklich einmal EU-Mitglieder sein sollten. "Wir werden nie akzeptiert werden", meint auch Ali Erdogdu, der direkt hinter Tarhan in der Schlange steht. Erdogdu entfaltet ein Blatt Umweltpapier mit grünem Briefkopf. Darauf bescheinigt ihm die Stadt Gelsenkirchen, dass er die Bundesrepublik im Jahr 1997 freiwillig verlassen hat. "28 Jahre lang habe ich in Deutschland gelebt und gearbeitet, meine Kinder sind dort geboren, meine Frau ist dort gestorben", ruft er erregt. "Trotzdem muss ich hier anstehen und mich um ein Visum bemühen, damit ich meine Kinder besuchen darf." Wenn er nach einem Vierteljahrhundert Zusammenleben noch nicht dazugehöre, dann werde auch eine politische Zusage der EU daran nichts ändern, meint er. Ähnlich skeptisch zeigt sich ein Mann, der sich als Vertreter einer Visums-Vermittlungsagentur gut mit der Misere vor dem Konsulat auskennt. "Seit über 20 Jahren bin ich in diesem Geschäft und glaube politischen Ankündigungen längst nicht mehr", sagt der Graubärtige von der Agentur ,Göktrans'", die gleich hinter dem Konsulat liegt und gegen eine Gebühr Formulare beschafft, Anträge ausfüllt und bei der Zusamenstellung der erforderlichen Dokumente behilflich ist. "Da war von Hilfen für Rückkehrer die Rede, von Erleichterungen für die Familienzusammenführung und so weiter: Jedesmal, wenn die Politiker ein Abkommen unterzeichnet haben, kamen die Leute zu uns gerannt und dachten, jetzt wird es besser", sagt er. "Aber geändert hat sich nie etwas." Er weist mit dem Arm auf die Warteschlange. "Auch diesmal wird sich nichts ändern." Im Regierungsviertel von Ankara will der Jubel auch am Montag nicht abreißen. Die Politiker klopfen sich weiter auf die Schultern und berichten mit stolzgeschwellter Brust von ihrem Anteil am Aufbruch der Türkei nach Europa. Vor dem deutschen Konsulat in Istanbul schiebt sich währenddessen die Schlange der Anwärter auf ein Visum nach Europa weiter zentimeterweise voran. "Das mit der EU-Kandidatur ist eine Sache der Regierungen", sagt Tarhan. "Mit dem Volk hat das nichts zu tun."
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