taz, 15.12.1999 Kommentar Ein grüner Erfolg Die CDU/CSU will eine neue, sachliche Ausländerpolitik Niederlagen verwandeln sich bisweilen in Siege. Beurteilen lässt sich das allerdings erst im Rückblick. Gestern rief der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Rüttgers, zu einer Grundsatzdebatte über "Islam in Deutschland" auf - eine Kernfrage jeder modernen Integrationspolitik. Rüttgers ergriff damit zum zweiten Mal die Initiative, nachdem er bereits im März ein bemerkenswertes Papier zu Ausländerintegration und Toleranz vorlegte. Damals verweigerte die rot-grüne Regierung allerdings die Diskussion. Die Neuformulierung der Ausländerpolitik der Union ist eine kleine Sensation. Sie beendet nicht nur eine Politik der Abschottung, sondern ist auch Ausdruck einer ernsthaften Suche nach Antworten auf Herausforderungen, die man in sechzehn Jahren Regierungsverantwortung sträflich vernachlässigte. Das alles könnte man nun hämisch oder auch verbittert anmerken, gedient wäre damit allerdings allein dem eigenen Seelenfrieden. Festzuhalten bleibt: Die Kehrtwende in Richtung einer zeitgemäßen Ausländerpolitik vollzog die Union nicht freiwillig, wie sogar Rüttgers selbst einräumt. Seine Partei reagiert auf die Pläne der rot-grünen Bundesregierung, die doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen. Damit scheiterte die Koalition - bitter vor allem für die Grünen, die das Projekt fast ein Jahrzehnt verfolgt hatten. Anlass der Niederlage war der Doppelpass. Ausgerechnet sein Scheitern erzwingt jetzt eine Neubesinnung in der Ausländerpolitik der Union. Die Grünen haben also mehr erreicht, als sie in der Vergangenheit hoffen konnten: eine Entideologisierung und Versachlichung der Integrations- und Minderheitenpolitik. Sollte es Rüttgers und seinen Mitstreitern in der Union tatsächlich gelingen, die CDU/CSU und deren Anhänger auf den neuen Kurs mitzunehmen, dann herrscht erstmals seit Jahrzehnten ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, was künftig im Interesse der eingewanderten Menschen zu tun ist. Gelingt das, können nur die Grünen selbst sich noch um den Triumph und die Ernte ihrer Beharrlichkeit bringen. Zum Beispiel, wenn sie aus Verletztheit über die Unterschriftenkampagne der Union unfähig wären, diese beim Wort zu nehmen und migrationspolitische Tatsachen zu schaffen. Eberhard Seidel
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