jungle world, 15.12.1999 Gipfel der Erweiterung Die Türkei wurde auf dem EU-Gipfel in Helsinki zum offiziellen Beitrittskandidaten gekürt. Bald könnte die Union bis zu 27 Mitgliedsstaaten umfassen. von danièle weber Aus 15 könnten 27 werden. Die EU will wachsen - wie und bis wann, darüber wurde am Freitag und Samstag in Helsinki debattiert. »Europäischer Rat« heißt das Treffen, bei dem sich die Staats- und Regierungschefs der EU traditionell zum Ende der rotierenden Präsidentschaft der Union zusammenfinden. Wie immer reisten auch diesmal Tausende von Delegierten mit einem ganzen Presse-Tross an. Als im Messezentrum von Helsinki am Freitagmorgen die Staatschefs der 15 Mitgliedsländer Platz nahmen, bemühte man sich, dem Event kurz vor der Jahrtausendwende eine besondere historische Note zu verleihen. Als »Gipfel der Erweiterung« sollte dieser Europäische Rat in die Geschichte der EU eingehen. Vor der Tür stehen über ein Dutzend Staaten aus dem Osten, für die die einzige Zukunftsperspektive »EU« heißt. Dazu gehört auch die Türkei, die lange in der Runde verschmäht wurde. Doch mit den Erfahrungen im Baltikum scheint sich die Haltung der EU schlagartig geändert zu haben: Was vor zwei Jahren vom Europäischen Rat in Luxemburg kategorisch abgelehnt worden war, tragen die 15 der türkischen Regierung jetzt sogar bis nach Ankara hinterher. Der Europäische Rat hoffte, dass ihm mit den richtigen Formulierungen der Spagat gelingt, weder die Gefühle des EU-Mitglieds Griechenland noch die der Türkei zu verletzen. Unter Punkt vier ihrer Schlussfolgerungen fordern die Staats- und Regierungschefs die beitrittswilligen Länder dazu auf, »alles daran zu setzen, etwaige ungelöste Grenzstreitigkeiten und andere damit zusammenhängende Fragen zu lösen«. Ist keine Lösung zu erreichen, »so sollten sie den Streitfall innerhalb einer angemessenen Frist dem Internationalen Gerichtshof vorlegen«. Genau das wollte die Türkei in ihrer Auseinandersetzung mit Zypern, das zur Hälfte vom türkischen Militär besetzt ist, auf keinen Fall tun. Und so mussten der Hohe Beauftragte für Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, und Günter Verheugen, der EU-Kommissar für Erweiterungsfragen, noch am Freitag nach Ankara reisen, um die Position der Union persönlich zu erläutern. Offensichtlich konnten sie überzeugen, denn tags darauf trat ein strahlender Bülent Ecevit vor die Presse. Der türkische Ministerpräsident bedankte sich für den »herzlichen Empfang«, den der Europäische Rat ihm in Helsinki bereitet habe. »Die Türkei hat ein Recht darauf, Mitglied der europäischen Union zu werden«, stellte Ecevit selbstsicher fest und zählte minutenlang eine ganze Palette von Reformen auf, die in den letzten Monaten unter seiner Regie durchgeführt wurden und aus der Türkei ein EU-würdiges Land machen sollen. Der Kandidatenstatus, der seinem Land jetzt angeboten wurde, hat jedoch mit einer Mitgliedschaft noch nicht sehr viel zu tun. Denn richtig verhandelt wird erst, wenn die Zypern-Frage gelöst ist und die Türkei die so genannten Kopenhager Kriterien erfüllen kann. Dieser im Juni 1993 beschlossene Katalog legt fest, wie hoch die Latte der EU in Sachen Demokratie, Menschenrechte und einer stabilen Marktwirtschaft liegt. Dass auch nach Beginn der Verhandlungen längst nicht alles gewonnen ist, davon können die ein Lied singen, für die sich das EU-Portal immerhin bereits einen Spalt weit geöffnet hat. Seit Frühjahr 1998 stehen Polen, die Tschechische Republik, Estland, Ungarn, Slowenien und Zypern in Verhandlungen mit der EU. Jetzt soll sich die Zahl der EU-Kandidaten verdoppeln: Bereits ab März 2000 gehören auch Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und die Slowakei dazu. Dass plötzlich nicht, wie ursprünglich geplant, der Zuwachs der Union in zwei Phasen vonstatten gehen soll, hat ebenfalls mit der Angst vor einem instabilen Osten zu tun. »Können wir damit zufrieden sein, Frieden, Stabilität und Wohlstand nur für uns, die 15 Mitglieder der Union, erreicht zu haben?« hatte Kommissionspräsident Romano Prodi Mitte September vor dem Europaparlament gefragt und von einer »neuen europäischen Seele« gesprochen. Nicht ohne hinzuzufügen: »Wir haben Lehren aus der Kosovo-Krise gezogen. Wir haben verstanden.« Fazit: Es muss schneller gehen mit der Integration der Staaten aus dem Osten. Deshalb werden jetzt alle Kandidaten in der Bewerbungsrunde auf das gleiche Niveau gestellt. Dabei scheinen die 15 jetzt auf den Wettkampf unter den Bewerbern zu zählen. Motto: Wer die Bedingungen am schnellsten erfüllt, wird als Erster aufgenommen. Vor ihnen liegt ein langer Weg durch die bürokratische Maschinerie der Union. Als oberstes Ziel gilt das »acquis communautaire«, die Übernahme der gesamten EU-Gesetzgebung auf nationaler Ebene. Wie viel Geld den Kandidaten zur Verfügung gestellt wird, um die EU-Standards zu erreichen, legt das PHARE-Programm (»Poland and Hungary: Action for the Restructuring of the Economy«) fest. Inzwischen wurde es auf alle Kandidaten erweitert und umfasst jährlich rund 1,5 Milliarden Euro. Wann die ersten Staaten aufgenommen werden können, will zur Zeit niemand sagen: In Helsinki verzichteten die Staats- und Regierungschefs darauf, genaue Termine für den EU-Zuwachs zu nennen. Der unverbindliche Zeitrahmen stößt bei einigen Bewerbern auf Kritik. »Viele fragen sich, ob die EU uns wirklich will«, sagt beispielsweise Jan Kulakowski, Verhandlungsführer der polnischen Regierung mit der EU gegenüber der französischen Tageszeitung Le Monde. Zu Hause wächst die EU-Skepsis. Laut jüngsten Umfragen sind nur noch 46 Prozent der polnischen BürgerInnen für einen Beitritt zur EU. Die Angst der Menschen ist begründet: Wenn die Zahl der Mitglieder der EU von 15 auf 27 steigt, kommen zu den 370 Millionen EU-BürgerInnen weitere 100 Millionen dazu. Die zwölf »Neuen« können aber bisher nur mit sieben Prozent des Bruttoinlandproduktes der EU aufwarten. Einem Land wie Polen könnten größere Umstrukturierungen bevorstehen: Immerhin 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung des Landes ist (noch) in der Landwirtschaft beschäftigt. Bei der Frage, wie die Europäische Union des nächsten Jahrtausends aussehen soll, dürfen die Kandidaten allerdings nicht mitreden. Für sie gelten die bestehenden EU-Regeln. »Bei den Diskussionen um die Institutionen nehmen wir nicht aktiv teil, weil wir noch nicht Mitglied sind«, beschwert sich Kulakowski. Dabei ist gerade diese Debatte entscheidend für die Durchführung der Erweiterung. Ein Punkt, bei dem Prodi in Helsinki eine erste Niederlage einstecken musste. Der Mann der großen Reformen in der EU wollte auf diesem Gipfel Nägel mit Köpfen machen. Und der »Regierungskonferenz«, die im nächsten Jahr einberufen wird, einen umfassenden Auftrag erteilen. Sie soll die Institutionen so umorganisieren, dass sie auch fast doppelt so viele Mitglieder verwalten können. Doch den Elan, mit dem Prodi die neue EU aufbauen will, teilen die 15 offensichtlich nicht. In vielen Punkten ging ihnen der Vorschlag des Kommissionspräsidenten zu weit. Sie wollen sich zunächst darauf beschränken, über die Größe der Kommission und Abstimmungen im Ministerrat zu diskutieren. Der nächste Vorsitz wird dem Europäischen Rat »gegebenenfalls zusätzliche Themen für die Tagesordnung vorschlagen«, heißt es wenig vielverprechend in der so genannten Helsinki-Erklärung. Womit alles offen wäre. Das wird kaum reichen, den EU-Apparat für die Aufnahme der Neuen fit zu machen. Helsinki dürfte nicht der letzte »Gipfel der Erweiterung« sein.
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