jungle world, 15.12.1999 Von der Elbe zum Bosporus von anton landgraf Ein »historisches Ereignis« sei es gewesen, schwärmte Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ein »neues Kapitel der europäischen Geschichte« sei aufgeschlagen worden, sagte EU-Kommissionspräsident Roman Prodi. »Der Weg für eine volle Mitgliedschaft« sei nun offen, ergänzte der türkische Ministerpräsident Bülent Ecevit nach dem EU-Gipfel in Helsinki. Die Kommentare sind nicht übertrieben. Zwei Entscheidungen haben den Charakter der Union verändert: Die Ernennung der Türkei zum Beitrittskandidaten und die Schaffung einer europäischen Eingreiftruppe. Die Europäische Union ist dabei, auch militärisch zu werden, was sie ökonomisch längst schon ist: die hegemoniale Macht auf dem alten Kontinent. Dafür ist die EU bereit, die Türkei als Beitrittskandidaten zu akzeptieren - und eine radikale Wende in ihrer Südosteuropa-Politik einzuleiten. Noch auf dem Gipfel in Luxemburg vor drei Jahren galt eine Aufnahme als ausgeschlossen. Und selbst in Helsinki wetterte der Sprecher der konservativen Fraktion im Europaparlament, Hans-Gert Pöttering, die Türkei sei als Beitrittskandidat wegen der dortigen politischen und wirtschaftlichen Lage »nicht akzeptabel«. Dass sie nun doch als potenzielles Mitglied akzeptiert wird, liegt in erster Linie an dem Engagement der deutschen Bundesregierung. Dabei wurde auch die dominantere Rolle Deutschlands in der Union dokumentiert, das mit dem zuständigen EU-Kommissar Günter Verheugen auch die Schlüsselposition im Erweiterungsprozess besetzt. Vor allem Bundeskanzler Schröder hat sich für Ecevit eingesetzt und die Bedenken der übrigen Mitgliedsstaaten zurückgedrängt. Ein zentrales Argument dabei dürfte die militärstrategische Bedeutung der Türkei gewesen sein. Die EU will in die Offensive gehen. Sie hat ihre Lektion aus dem Kosovo-Krieg gelernt. Zumindest in Europa und in den angrenzenden Gebieten will die Union selbst die Initiative übernehmen. Sie ist entschlossen, auch ohne Nato eigene militärische Operationen einzuleiten - notfalls auch in Konkurrenz zur USA, die in Ankara bisher die besseren Karten hatten. An der künftigen Eingreiftruppe werden keine Soldaten der USA oder Kanadas beteiligt sein. Die EU setzt damit konsequent um, was sie bereits auf ihrem letzten Gipfel in Köln angekündigt hatte. Die Mitgliedsstaaten wollen »entschlossen dafür eintreten«, dass die Union »ihre Rolle auf der internationalen Bühne uneingeschränkt wahrnimmt«, hieß es in der damaligen Abschlusserklärung. Anschließend folgten Ausführungen für die notwendigen »Umstrukturierungen der europäischen Verteidigungsindustrie«. Als wichtiges Ziel wurde bereits im Sommer - der Krieg gegen Jugoslawien war noch im Gange - die Kontrolle über den Südosten Europas bezeichnet. Hier gelte es, die mangelnde Einigkeit der Vergangenheit zu überwinden, um die Dominanz der USA einzuschränken. Für die EU ist seitdem klar, dass sie die hegemoniale Rolle ohne die Türkei nicht erreichen kann. Das Land in Nachbarschaft zum Balkan, dem Kaukasus und dem Nahen Osten ist für eine europäische Großmacht unentbehrlich.
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