Frankfurter Rundschau, 17.12.1999 Bundestag streitet wegen der Türkei Union lehnt Ankara als EU-Mitglied ab / Fischer spricht von Heuchelei und wiegelt ab Von Richard Meng Die rot-grüne Regierungskoalition hat die scharfe Kritik aus der CDU/CSU-Opposition am EU-Kandidatenstatus der Türkei als rein innenpolitisches Manöver zurückgewiesen, gleichzeitig aber die praktische Bedeutung dieses EU-Beschlusses von Helsinki heruntergespielt. BERLIN, 16. Dezember. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sagte am Donnerstag vor dem Bundestag, die deutschen Christdemokraten hätten sich mit ihrem Nein zur EU-Kandidatur der Türkei "auf bayerisches Drängen hin" wieder einmal europaweit isoliert, ähnlich wie 1975 bei ihrem Nein zur KSZE-Schlußakte. Außenminister Joschka Fischer (Grüne) warf den Unionsparteien "bodenlose Heuchelei" und "Gedächtnisverlust" vor, weil die Grundlagen für die europäische Perspektive der Türkei in den Zeiten christdemokratischer Regierungsverantwortung gelegt worden seien. Fischer sagte aber auch, dass der vom EU-Gipfel in Helsinki beschlossene "Kandidatenstatus" der Türken vor allem psychologische Funktion habe. Schröder meinte, die Türkei habe noch einen "langen, beschwerlichen Weg" vor sich, und versprach, dass es "keinerlei Abstriche" an den Kriterien der EU für einen Beitritt geben werde. CDU/CSU-Fraktionschef Wolfgang Schäuble überließ den harten Gegenkurs zur Regierungspolitik dem CSU-Landesgruppenchef Michael Glos. Er kritisierte lediglich, ebenso wie die PDS, die "Oberflächlichkeit", mit der das Thema Türkei von Schröder behandelt werde, und sprach von den "Fragen der Menschen", denen sich die Politik stellen müsse. Fischer reagierte darauf mit der Feststellung, die von Schäuble verlangte Definition der "Grenzen Europas" werde erst möglich sein, wenn mindestens in einem Teil der EU der Integrationsprozess "vollendet" sei; das sei noch nicht der Fall. Glos nannte eine Aufnahme der Türkei in die EU "auf absehbare Zeit undenkbar" und bezog auch inhaltlich eindeutig dagegen Stellung. Eine EU, in der Länder wie die Türkei Mitglied wären, hätte "nichts mehr zu tun" mit den Ideen der EU-Gründungsväter, sondern wäre eine "Union der Beliebigkeit". Das sei der "falsche Weg", und die CDU/CSI werde ihn "nicht mitgehen". Die hohe Geburtenrate in der Türkei würde das Land zudem bald und noch vor Deutschland zum einwohnerstärksten Staat innerhalb der EU machen, rügte er. Das sprenge das "Fassungsvermögen" der EU und stelle "Toleranz und Integrationsbereitschaft der Bürger" auf eine "harte Belastungsprobe".
|