Tagesspiegel, 18.12.1999 Ausländer und Asyl in Deutschland - eine emotional aufgeladene Debatte Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung hofft, dass auf Grundlage des Berichts die Diskussion versachlicht werden kann Tissy Bruns Wir leben in einer Welt der Mythen, wenn es um Einwanderung und Ausländer geht, sagt Marieluise Beck. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung plädiert dafür, "zunächst einmal die Fakten anzusehen". Der "Migrationsbericht 1999", den sie gestern in Berlin vorstellte, verblüfft zunächst: In den letzten zwei Jahren, so der Befund der Wissenschaftler vom "Europäischen Forum für Migrationsfragen", sind mehr Ausländer aus Deutschland weggezogen als eingewandert. "Es hat in den letzten acht Jahren auch relevante Abwanderung gegeben," sagt die grüne Ausländerbeauftragte. 5,8 Millionen Menschen sind gegangen - es bleibt für die neunziger Jahre ein Einwanderungsüberschuss von knapp drei Millionen Menschen. Aber das sind auch Zahlen, die nicht auf den ersten Blick alles erklären. Denn Menschen lassen sich nicht per Saldo integrieren - jeder Einzelne, der neu kommt, muss sich zurechtfinden, aufgenommen werden, die Sprache lernen: So sind trotz insgesamt sinkender Zuwanderungstendenz gut 800 000 Menschen auch 1998 neu ins Land gekommen, 75 Prozent davon Ausländer. Auf jeden Fall aber liefert das Zahlenwerk des Berichts, den der Bundestag vom nächsten Jahr an regelmäßig vorlegen will, die nötigen Grundlagen für eine gelassenere Debatte. Die Diskussion um Ausländerfragen ist emotions- und angstbeladen, weiß Beck. Und manchmal, fügt sie hinzu, werde sie mit regelrechter "Seemannsrhetorik" geführt. Von "Überschwemmung" sei die Rede, vom Boot, das voll sei. Für sie lautet die nüchterne Tatsache: Deutschland ist ein Einwanderungsland. "Wer A sagt, muss auch B sagen", findet sie. Wer die europäische Integration wolle, wer sagt, dass die globalisierte Welt ein Dorf geworden sei, müsse auch zur Kenntnis nehmen: "Moderne Gesellschaft heißt: Es gibt Mobilität, es gibt Einwanderung." Friedrich Heckmann, einer der Verfasser des Berichts, erklärt, dass die hohen Zahlen von Ein- und Zuwanderungen für Einwanderungsländer kennzeichnend seien. In den USA wisse man aus langjähriger Beobachtung, dass rund 40 Prozent der Zugewanderten das Land doch wieder verlassen. Einwanderung sei eben eine Entscheidung, die überprüft und in vielen Fällen wieder rückgängig gemacht wird. Für Deutschland lasse sich eine vergleichbare Prozentzahl nicht nennen, auch weil die Migrationsbewegungen nicht systematisch untersucht würden. Aber man wüsste aus Erfahrung, dass die Spätaussiedler oder die jüdischen Zuwanderer aus Russland fast geschlossen blieben. Bei den Saisonarbeitern gelte natürlich das Gegenteil, und besonders viel Fluktuation gibt es bei denen, die inzwischen jede fünfte Migrationsbewegung verursachen: den EU-Bürgern, die unter fast völliger Freizügigkeit nach Deutschland kommen können. Denn ins Reich der Mythen gehört auch die Vorstellung, dass die Zuwanderung vor allem türkisch sei: 2,1 Millionen Türken leben in Deutschland, aber eben auch fünf Millionen Ausländer anderer Herkunft. Wie die Wissenschaftler hebt Marieluise Beck hervor, dass entgegen der Vorstellung, dass "wir überrannt werden", die Zuwanderung nach Deutschland geregelt ist. "Die Zugänge sind gesetzlich bestimmt", sagt Beck und zählt auf: die Rechtgrundlagen durch Asylrecht und Genfer Konvention, die Bestimmungen zum Familiennachzug, die auf dem Grundgesetz beruhen, die gesteuerte, quotierte Einwanderung der Spätaussiedler und der russischen Juden. Ein Einwanderungsgesetz - wie es ihre Partei vorschlägt - wäre "zum Teil nur die Zusammenfassung bestehender Gesetze." Auf die Frage, wann die rot-grüne Regierung ein Einwanderungsgesetz vorlegen wolle, antwortet Beck: "Ich setze da jetzt kein Ziel." Heckmann setzt hinzu, dass ein Einwanderungsgesetz "nur noch ein rechtsästhetischer Akt ist. Wir haben eines beziehungsweise mehrere." Dass Deutschland das Land mit den höchsten Flüchtlingszahlen sei, gehört übrigens auch zu den falschen Annahmen. Beck verweist darauf, dass das UN-Flüchtlingskommissariat Deutschland an neunter Stelle führt, "im europäischen Mittelfeld". Harald Lederer, ebenfalls Mitverfasser, sagt, dass Deutschland im internationalen Vergleich in den 90er Jahren eine absolut hohe Zuwanderung hat, in Pro-Kopf-Berechnungen jedoch hinter Luxemburg und der Schweiz liege. Insgesamt registrieren die Wissenschaftler für die zweite Hälfte der 90er eine sinkende Tendenz. Der Vermutung, dass die mit dem neuen Asylrecht dichter gewordenen Grenzen dafür verantwortlich seien, will Lederer nicht folgen. Das sei ein Faktor. Aber die Entwicklung erkläre sich auch daraus, dass feststehende Kontingente wie die Spätaussiedler sich erschöpften. Vor allem drücke sich in diesen Zahlen die kleine Hoffnung aus, dass die Krise des ehemaligen Jugoslawien nun wirklich zu Ende gehe.
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