Frankfurter Rundschau, 20.12.1999 "Willkommen daheim, Abdullah Öcalan" Der PKK-Chef irrte auf der Suche nach Asyl durch Europa und wurde schließlich in die Türkei entführt / FR-Serie (I) Von Gerd Höhler (Athen) Es war ein Jahr im Schatten des Kosovo-Kriegs. Doch nicht nur deshalb hat 1999 die Welt verändert. In dieser Serie halten Redakteure und Korrespondenten der FR einprägsame Augenblicke des Jahres fest. Als man ihm das silbergraue Plastik-Klebeband vom Gesicht reißt, wirkt er wie geblendet. Dann irren die Augen unter den buschigen Brauen ziellos umher. Er sucht Orientierung: Wo bin ich, wer hat mich hierher gebracht? Bewegungsfreiheit hat der schnauzbärtige Mann nicht. Hände und Füße sind gefesselt, mit Gurten ist er an seinen Sitz geschnallt. "Willkommen daheim, Abdullah Öcalan", sagt eine Stimme. "Dankeschön; ich liebe die Türkei wirklich sehr", murmelt der Gefangene benommen. Man rätselte zunächst, ob das Ironie oder ein erstes patriotisches Bekenntnis war. Aufgenommen wurde das Video am 15. Februar in einem Privatjet irgendwo über Nordafrika. Als die türkischen Fernsehzuschauer die Aufnahmen anderntags sehen, ist der PKK-Chef Öcalan bereits in der Türkei. Von Istanbul wird er, immer noch gefesselt und wieder mit verklebten Augen, auf einem Kriegsschiff zur Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer gebracht. Die Nation triumphiert. Der "Staatsfeind Nummer 1" ist gefasst, nach monatelanger Hatz haben türkische Agenten den meist gesuchten Mann des Landes gestellt. Die türkischen Massenblätter feiern die Festnahme der "Bestie". Vier Monate zuvor hatten die Syrer, in deren Hauptstadt Damaskus Öcalan seit 1980 residierte, ihn auf massiven türkischen Druck vor die Tür gesetzt. Nach einem Aufenthalt in Italien, wo er mit falschem Pass eingereist war, schleusten griechische Bewunderer den PKK-Chef Ende Januar in Athen ein. Der griechische Außenminister Theodoros Pangalos gab Weisung, Öcalan nach Kenia zu bringen und ihn in der Residenz des griechischen Botschafters in Nairobi zu verstecken. Doch der abenteuerliche Plan scheiterte. Türkische Agenten spürten Öcalan in Nairobi auf und entführten ihn nach Istanbul. Ende Juni verurteilte das Staatssicherheitsgericht Ankara den Kurdenführer wegen Hochverrats zum Tode. Doch dass er jemals hingerichtet wird, ist nach der jüngsten Annäherung der Türkei an die EU unwahrscheinlicher denn je. Inzwischen scheint sich etwas zu bewegen in der Kurdenfrage. Demonstrativ empfing Staatspräsident Süleyman Demirel im Herbst die neugewählten Bürgermeister der Kurdenmetropolen, allesamt Kandidaten der vom Verbot bedrohten pro-kurdischen Hadep-Partei. Seine Tür sei immer für sie offen, versicherte Demirel den kurdischen Kommunalpolitikern. Eine neue Kurdenpolitik hat Ankara noch nicht formuliert. Dem stehen einstweilen auch die im Fall Öcalan von den Politikern, den Militärs und den Medien aufgepeitschten Emotionen im Wege. Aber wenn es die Türkei ernst meint mit ihrer Annäherung an Europa, wird sie um einen grundsätzlichen Kurswechsel im Umgang mit der kurdischen Minderheit nicht herumkommen. Das wissen die Politiker in Ankara, das weiß auch Öcalan. Deshalb überraschte nicht, dass er Anfang Dezember die EU aufrief, die Türkei als Beitrittskandidaten anzuerkennen. Ging es ihm bei dem Appell auch darum, den eigenen Kopf zu retten? Sicher. Nichts wäre für einen Todeskandidaten legitimer.
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