Der Bund (CH), 29.12.99 Saddam Husseins vergessene Kinder IRAK / Die seit neun Jahren andauernden Sanktionen, die der Uno-Sicherheitsrat über Irak verhängt hat, treffen die Kinder besonders hart: Eine halbe Million Kinder sind an den Folgen des Embargos gestorben; immer mehr Familien zerbrechen wegen der grossen Armut, viele Kinder landen auf der Strasse oder - mit etwas Glück - in Heimen. o ANNE-BEATRICE CLASMANN, BAGDAD (DPA) In ash-Shuala, einem der Armenviertel von Bagdad, hält ein Auto der Vereinten Nationen vor dem Eingang der Volksschule. Blitzschnell ergreift ein Knabe einen Stein. Das Heckfenster zersplittert in tausend Stücke. Die vier Insassen des Uno-Fahrzeugs ducken sich erschreckt. Einige Kinder blicken betreten zur Seite. Doch die meisten freuen sich über den gelungenen Wurf. Die Uno, die Regierung, überhaupt alles, was irgendwie nach Obrigkeit aussieht, ist den Einwohnern dieses Viertels, in dem viele aus dem Süden zugewanderte Schiiten leben, suspekt. Zwei Kriege und die Folgen der 1991 nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait verhängten Uno-Sanktionen haben die Menschen zwischen Basra und Bagdad verbittert und misstrauisch gemacht. Menschenrecht auf Essen Vor allem die Kinder leiden unter den Sanktionen, welche Irak nur eine begrenzte Ausfuhr von Öl unter Uno-Aufsicht erlauben. Das Uno-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass die Auswirkungen des seit neun Jahren vom Sicherheitsrat aufrecht erhaltenen Embargos einer halben Million Kinder das Leben gekostet haben. «Wir stecken hier sehr oft in einem ethischen Dilemma», meint Anupama Rao Singh, Unicef-Leiterin in Irak. «Einerseits verlangt die Uno-Charta von uns, dass wir die Menschenrechte, zu denen auch Essen gehört, verteidigen. Andererseits sind wir an die Entscheidungen des Uno-Sicherheitsrats gebunden, die im Fall Iraks die sozialen und wirtschaftlichen Rechte eines ganzen Volkes einschränken.» Die unterernährten Kinder, die Doktor Sawsan an-Niemi täglich im Kadhmija-Spital in Bagdad auf die Waage stellt, sind eines von vielen Beispielen dafür. In einem Eisenbettchen im ersten Stock liegt Bilal Ahmed, der mit seinen drei Monaten kaum schwerer ist als bei seiner Geburt. Die chronische Mangelernährung hat bei ihm bereits bleibende geistige Schäden verursacht. Auch ältere Kinder leiden unter der Armut, die das Land in einem eisernen Würgegriff hält und von der nur eine dünne Schicht von Schwarzmarkthändlern und korrupten Beamten profitiert. Der für die an relativen Wohlstand und ein intaktes Sozialsystem gewöhnten Iraker zermürbende Kampf ums wirtschaftliche Überleben lässt immer mehr Familien auseinander brechen. In Bagdad greift die Polizei jeden Tag Dutzende von bettelnden Strassenkindern auf - ein Phänomen, das in diesem Ausmass vor 1990 nicht vorhanden war. Aus dem Haus geprügelt Nur ein Bruchteil dieser Kinder findet in den staatlichen Waisenheimen Unterschlupf, die von Unicef unterstützt werden. Der 14-jährige Mohammed Hassanein ist einer von ihnen. Sein Vater, ein ägyptischer Gastarbeiter, hat sich vor sieben Jahren aus dem Staub gemacht. Auch seine Mutter, die die Familie allein nicht ernähren konnte, hat der Junge seither nicht mehr gesehen. So landete er auf der Strasse. «Erst brachte sie mich zu einer Kinderfrau», erzählt Mohammed stockend. «Doch als meine Mutter kein Geld mehr schickte, hat mich der Neffe der Kinderfrau aus dem Haus geprügelt.» Seit 1995 lebt Mohammed im «Heim der Barmherzigkeit» in Bagdad, zusammen mit 74 anderen Knaben und Mädchen. Auch Kinder, die noch in intakten Familien leben und genug zu essen haben, erleben den schleichenden Niedergang des Zweistromlandes täglich am eigenen Leib. So etwa die Kinder in Saddam City, einem Vorort von Bagdad, der wegen seiner guten Infrastruktur einst nach dem Präsidenten benannt worden war. Heute gleicht er fast einem Slum. Eingebläute Propaganda Da viele Abwasserpumpen in der Stadt nicht mehr funktionieren, steht das Schmutzwasser in einigen Schulen bis zu einem halben Meter hoch. Eine der Mädchenschulen in Saddam City hat Unicef im vergangenen Sommer renoviert. Eine Vertreterin des Erziehungsministeriums führt sie ausländischen Besuchern gerne vor. Doch die Idylle trügt. «Wir lehnen die britisch-amerikanische Uno-Resolution ab. Ja, ja, für eine Aufhebung der Uno-Sanktionen», steht mit grossen Lettern auf der Tafel geschrieben. Die Lehrerin spricht den Slogan vor. Dann rufen ihn die Mädchen im Chor. Auf die Frage, ob die zwölfjährigen Schülerinnen die politische Bedeutung dieser Kampfparole denn überhaupt verstünden, antwortet die regimetreue Beamtin erstaunt: «Aber natürlich, jedes Mal, wenn bei ihnen zuhause der Strom ausfällt, denken sie an Amerika und seine Verbündeten.» ---------------------------------------------------------------------------- ---- Neues Kontrollregime bau. Die neue Irak-Resolution des Uno-Sicherheitsrates weist zwei wesentliche Änderungen gegenüber früheren Beschlüssen auf: * Arbeitet Irak vorbehaltlos mit Unmovic und IAEA während dreier Monate zusammen, kann der Sicherheitsrat die Sanktionen erstmals während 120 Tagen aussetzen. Die vollständige Aufhebung des Embargos wird frühestens in einem Jahr beschlossen. Eine Frau kümmert sich im grössten Spital von Bagdad um ihren kranken Sohn. keystone |