Süddeutsche Zeitung, 30.12.1999 Hammeleingeweide und EU-Normen Ankara ist wild entschlossen, schnell der Union beizutreten - und opfert ein paar Traditionen Die Szene war so grotesk, dass sich ein Satiriker gescheut hätte, sie zu erfinden. Tatsächlich aber wurden hunderttausende von türkischen Fernsehzuschauern live Zeuge, wie Verteidigungsminister Sabahettin Cakmakoglu die Frage von Journalisten beantwortete, ob der neue EU-Kandidatenstatus der Türkei nicht auch etwas am Verhältnis zwischen Generalstab und dem Verteidigungsministerium ändern werde. Bislang untersteht der Minister den Generälen und nicht umgekehrt wie anderswo. Cakmakoglu begann auf herkömmliche Weise zu antworten. Er betonte die verschiedenen Traditionen in verschiedenen Ländern, die man natürlich immer berücksichtigen müsse. Gerade wollte er erläutern, warum sich deshalb an den Machtverhältnissen in der Türkei so schnell nichts ändern werde, als er von einem Generalmajor unterbrochen wurde. Der Offizier reichte ihm einen Zettel, von dem der Minister ablas: Selbstverständlich werde alles so schnell wie möglich europäischen Normen und Bestimmungen angepasst werden. Die Szene ist symptomatisch für den Elan und für die unvergleichlich eigene Art, mit der sich die Türkei in die Vorbereitungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union gestürzt hat, seitdem ihr Mitte Dezember auf dem EU-Gipfel in Helsinki der Status eines Kandidaten verliehen wurde. Glaubt man in Europa, die Türken nun bis zum Sankt-Nimmerleinstag hinhalten zu können, macht Ankara eine andere Rechnung auf: Regierungschef Bülent Ecevit hat als Zieldatum für den Beginn von Verhandlungen das Jahr 2004 ausgegeben, und seine Landsleute sind wild entschlossen, diesen Termin auch einzuhalten. Begeistert berichteten türkische Zeitungen wenige Tage nach Helsinki, dass die Türkei bereits 60 Prozent der EU-Vorschriften "abgeschlossen" habe. Doch nur wer den Artikel zuende las, fand heraus, dass damit nicht die Anpassung türkischer Gesetze an EU-Recht gemeint war. Die türkischen Diplomaten hatten vielmehr lediglich 60 Prozent des 110 000 Seiten umfassenden europäischen "Aquis" durchgeackert, in dem von Schraubennormen bis zu Sicherheitsfragen alles haarklein festgelegt ist. Ernsthafte Diskussion beginnt "In Europa ist es so, und wie ist es bei uns?": Keine Frage wurde in den vergangenen Wochen öfter gestellt - und beantwortet. Denn für Europa scheinen viele Türken bereit, sogar Leckereien und Traditionen zu opfern. Tagelang beschäftigte die Öffentlichkeit beispielsweise die Frage, ob Brüssel "kokorec" tolerieren werde. Dabei handelt es sich um Hammeleingeweide, die entweder als Suppe oder am Spieß gebraten genossen werden. Weil diese Delikatesse unter dem Namen "kokoretsi" auch in Griechenland bekannt ist, kannte man in der Türkei die Antwort: Dieser Braten schmeckte den Bürokraten in Brüssel nicht. Den Türken zum Trost: Die Griechen pfiffen einfach auf das Verbot. An einer anderen Front ging Staatschef Süleyman Demirel beispielhaft voran. Unter Berufung auf EU-Richtlinien verbat er es sich, dass auf offener Straße zwei Hammel zur Eröffnung eines Staudammes geschlachtet wurden. Demirel unterband damit eine Tradition, die schon vor hunderten von Jahren gepflegt wurde, als die Türken noch auf kurzbeinigen Pferdchen durch die Steppen Zentralasiens ritten: Zu festlichen Anlässen wurden immer Tiere geopfert. Aus, vorbei. Mittlerweile hat aber auch eine Diskussion über ernsthafte Fragen begonnen. An die Spitze hat sich überraschend Ex-Premier Mesut Yilmaz gestellt. Von den Profilierungsversuchen in Sachen Demokratie erhofft er sich Chancen bei den Wahlen zum Präsidenten im kommenden Mai - auch wenn das Staatsoberhaupt vom Parlament und nicht vom Volk gewählt wird. Ziemliche Unruhe löste er mit seiner Bemerkung aus, dass der türkische Weg nach Europa über Diyarbakir führe, die inoffizielle Hauptstadt der Kurden. Erst Demirel konnte die Wogen glätten. Der Weg nach Europa, beruhigte er die Gemüter, führe über Reformen. Von Rechten für die Kurden sprach er dabei nicht. Wolfgang Koydl |