taz, 31.12.1999 Zivilisation braucht Pflege Jahrhundert der Menschenrechte soll das nächste sein, um Armut und Krieg zu überwinden, fordert Pro Asyl Von Eberhard Seidel Berlin (taz) - Das neue Jahrhundert muss zu einem Jahrhundert der Menschenrechte werden, forderte gestern in Frankfurt die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. "Das zu Ende gehende Jahrhundert hat wie kein anderes zuvor offenbart, wie dünn der Firnis der Zivilisation noch immer ist", erklärte der Sprecher von Pro Asyl, Heiko Kaufmann. Zwar haben die Erfahrungen von zwei Weltkriegen unter anderem zur Charta der Vereinten Nationen, zur allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und zur Genfer Flüchtlingskonvention geführt. Aber von einem Paradigmenwechsel hin zu einem neuen Völkerrecht und zur stärkeren Beachtung der Menschenrechte könne erst dann gesprochen werden, wenn die Staaten und Regierungen nicht länger versuchten, die einmal erreichten Standards in der Praxis abzuschwächen. Nach Angaben von Pro Asyl toben derzeit 35 Kriege, in 125 Staaten wird gefoltert. Es drohe ein neues Jahrhundert der Massenvertreibungen, wenn die globale Apartheid nicht überwunden würde und keine Korrekturen erfolgten. Nötig seien eine verstärkte Entwicklungszusammenarbeit zur Armutsbekämpfung, ein Verzicht auf Rüstungsexporte sowie die Abkehr von Konsumideologie und blinder Marktgläubigkeit. Vor diesem Hintergrund seien die Bemühungen von Innenminister Otto Schily, das Niveau des erreichten Menschenrechts- und Flüchtlingschutzes abzuschwächen, anachronistisch, kritisiert Kaufmann. In einem offenen Brief forderten der Nobelpreisträger Günter Grass und Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) Schily dazu auf, das Grundrecht auf Asyl nicht weiter in Frage zu stellen. Eine humane Ausländer- und Asylpolitik sei eine unverzichtbare Position sozialdemokratischer Politik. Konkret fordern Grass und Simonis von Schily die Einführung einer Härtefallregelung im Ausländergesetz, da "unser Ausländer- und Asylrecht gnadenlos geworden ist". Eine niederschmetternde Bilanz der Migrations- und Asylpolitik zieht der Niedersächsische Flüchtlingsrat: "Rot-Grün setzt die Politik der konservativ-liberalen Vorgängerregierung im Grundsatz fort - trotz Reform des Staatsangehörigkeitsrechts." Geschlechtsspezifische Verfolgung sei weiterhin kein Asylgrund, das Arbeitsverbot für Flüchtlinge noch nicht aufgehoben, und Änderungen beim umstrittenen Flughafenverfahren ließen auf sich warten. "Menschenrechte als Leitlinie für die innenpolitische Migrationsdiskussion haben abgedankt", so der Flüchtlingsrat, "jetzt geht es offensichtlich um die Errichtung eines europäischen Kontrollsystems über Räume, Märkte und Migrationsverläufe." |