Özgür Politika, 18.10.2001 Ein
Weg zur Lösung wird sich ergeben Von Sevin YETKIN ÖZGÜR POLITIKA: Es wird erwartet, dass die USA nach Afghanistan auch den Mittleren Osten angreifen werden. Wie bewerten Sie das? OSMAN
ÖCALAN: Zunächst müssen wir einmal feststellen, dass die
aktuelle Problematik nicht auf ein bestimmtes Land begrenzt ist. In den
neunziger Jahren begann das bis dahin über die Welt herrschende System
zu zerfallen. Das Weltsystem, das durch das relative Gleichgewicht zwischen
dem sozialistischen und kapitalistischen System existierte, wurde durch
den Zerfall des sozialistischen Systems mit einem Vakuum konfrontiert.
Das kapitalistische System konnte innerhalb der letzten zehn Jahre insbesondere
für die Problematik des äusserst sensiblen Gebietes Mittlerer
Osten keine Lösung darstellen. Wir haben gesehen, dass weder die
Regimefrage im Irak, noch die palästinensische und kurdische Frage
gelöst wurden. Auch in den anderen Ländern der Region wurde
das Verlangen der Völker nach Demokratie nicht erfüllt. ÖP: Welche Form können die Beziehungen und Widersprüche zwischen den Regimen der Region und den intervenierenden Kräften angesichts der von Ihnen erwähnten Entwicklungen annehmen? OÖ:
Im allgemeinen sehen die Regime in der Region eine solche Intervention
als ihren Interessen zuwider an. Insbesondere die Frage, wie mit der kurdischen
Frage umgegangen werden wird, sorgt für Probleme. Die Türkei
bemüht sich zu verhindern, dass eine Intervention im Irak den KurdInnen
einen Status beschert. Aber sowohl die Bemühungen der Länder
der Region als auch die der Türkei (aufgrund der kurdischen Frage)
eine derartige Intervention zu verhindern, gelangen nur bis an einen bestimmten
Punkt und bleiben letztendlich wirkungslos. Trotzdem aber wird es wohl
während der ersten Stufe solch einer Intervention kaum zu einer Lösung
der kurdischen Frage kommen. Die erste Etappe wird sich schwerpunktmässig
darum drehen, das bestehende Regime durch ein neues zu ersetzen. In der
zweiten Etappe wird es dann wichtig, den KurdInnen irgendeinen Status
beizugestehen. In dieser Hinsicht sind die Entwicklungen für die
KurdInnen von lebenswichtiger Bedeutung. Auch die Intervention gegen den
Irak wird aufgrund der kurdischen Frage eine komplizierte Form annehmen.
Es ÖP: Damit einhergehend gibt es ja auch die verstärkten Truppenverlegungen der Türkei in den Süden... OÖ:
Was die Türkei im Süden vorhat, wissen wir bereits von der Politik,
die sie seit langer Zeit im Süden verfolgt. Was die Haltung der Türkei
gegenüber dem Irak bestimmt, ist die Bedingung, dass es zu keiner
Lösung der kurdischen Frage kommt. Die Politik der Türkei zielt
im Wesentlichen darauf ab, dass die KurdInnen so wie im bestehenden Regime
des Irak auch unter einem neuen Regime keinen Status erlangen sollen.
Die Türkei hat niemals eine Lösung angestrebt. Deshalb hat sie
auch Anteil daran, dass das Irak-Problem bis heute andauert. Die Türkei
will diese Politik auch in der neuen Phase fortsetzen. ÖP: Was passiert, wenn die Türkei auf ihrer traditionellen Politik besteht? OÖ:
Wir wissen ja, dass die Türkei in diesem Punkt von Zeit zu Zeit ernsthafte
Probleme mit den USA hat. Da die Türkei um keinen Grad von ihrer
starren Haltung abweicht, gefährdet sie den Erfolg der US-Politik
in der Region. Wir können sagen, dass die Türkei zur jetzigen
Zeit, wo der in Afghanistan begonnene Krieg im Mittleren Osten intensiviert
werden wird, nicht weiter auf ihrer Politik der Verhinderung einer Lösung
wird bestehen können. Sie ist dazu gezwungen, sich auf eine gewisse
Lösung einzulassen. Sie kann den Umfang der Lösung begrenzen,
aber sie wird eine Lösung akzeptieren müssen. Denn wenn sie
keine Lösung akzeptiert, wird sie nach hinten abgedrängt werden,
und dabei würde sie nicht zuletzt selbst schwere Schäden davontragen.
In dieser Situation würden die USA und die anderen internationalen
Kräfte es zu einer Konfrontation mit der Türkei kommen lassen,
jedenfalls bis zu einem bestimmten Grade, wenn auch nicht in Form bewaffneter
Auseinandersetzungen. ÖP: Und wie können solche Gebilde für die Zukunft der KurdInnen aussehen? OÖ: Das herrschende System benachteiligt vielleicht die KurdInnen mehr als alle anderen. Deshalb bedeutet die Überwindung dieses Systems vielleicht auch für die KurdInnen mehr Vorteile als für alle anderen. Die KurdInnen können einen Platz in diesem neuen System finden, sie können diese Gelegenheit beim Schopfe ergreifen. Aber dafür bedarf es erheblicher Anstrengungen: KurdInnen können einen Platz im neugeformten Mittleren Osten einnehmen insofern als sie politische, militärische und diplomatische Aktivitäten an den Tag legen. Diese Gelegenheit hat sich jetzt ergeben. Die bevorstehende Intervention wird diese Möglichkeiten weiter entwickeln. Das übrige bleibt den KurdInnen überlassen. Falls die KurdInnen keine internen Kämpfe ausfechten, ihren politischen Kampf mit möglichst grosser Massenunterstützung weiterführen und falls nötig auch mal die militärische Initiative ergreifen, dann können im Laufe des nächsten Jahres in jedem Teil Kurdistans lösungsförderliche Entwicklungen einsetzen. Zwar widerstrebt es der Türkei, selbst in Nordkurdistan einen positiven Schritt zu tun, doch ist es durchaus möglich, diesen Widerstand zu brechen und einen Entwicklungsprozess hin auf eine Lösung einzuleiten. Wenn der Mittlere Osten völlig auf den Kopf gestellt wird, so wird dies für die KurdInnen mehr Lösungswege eröffnen als für alle anderen. ÖP: Was kann schlussendlich über den Platz Ihrer Partei in all diesen Entwicklungen gesagt werden? OÖ: Die Partei, die am besten darauf vorbereitet ist, ist die PKK. Es ist bekannt, dass die PKK sich seit drei Jahren mit strategischen und taktischen Veränderungen auf eine Lösung vorbereitet hat. Indem sie die Theorie solch einer Lösung, ihren organisatorischen Unterbau und eine dementsprechende Praxis Schritt für Schritt ausgebaut hat, wurde das kurdische Volk in eine Situation gebracht, in der eine Umsetzung der Lösung naheliegender als je zuvor ist. Indem Kampfhandlungen vermieden oder auf niedrigem Niveau gehalten wurden und statt dessen verstärkt mit politischen und diplomatischen Bemühungen gearbeitet wurde, spielt die PKK in der neuen Phase eine Schlüsselrolle beim Erschaffen einer Lösung. Sie spielt eine strategische Rolle. Eine Lösung erfordert den Einsatz der PKK mehr als den irgendeiner anderen Kraft. Und dazu ist die PKK in grossem Ausmass bereit. Wenn es nicht zu Behinderungen durch die anderen kurdischen Kräfte kommt, insbesondere durch die PUK und KDP im Süden, wird die PKK wichtige Erfolge für eine politische Lösung in allen Teilen Kurdistans erzielen können. Auch trotz solcher Behinderungen werden die Entwicklungen sicherlich einen bestimmten positiven Verlauf annehmen. Es ist das erste Mal, dass die KurdInnen vermelden, dass sie unter den Umständen eines grossen Chaos darauf vorbereitet sind, Entwicklungen hinsichtlich der Lösung ihrer Probleme durchzulaufen. Und die PKK spielt die Vorreiterrolle in dieser Vorbereitung. Die Entwicklungen werden in positiver Richtung verlaufen. Das kurdische Volk hat nichts zu verlieren. Aber e gibt eine Menge zu gewinnen, wenn durch eine Intervention im Mittleren Osten die Verhältnisse auf den Kopf gestellt werden. Wir hoffen, dass innerhalb kurzer Zeit die Vorteile deutlich werden und mit einer Lösung der kurdischen Frage begonnen werden kann. ÖP: Herr Öcalan, wie bewerten Sie den Grad der Angriffe der USA auf Afghanistan bis heute? OÖ:
In der momentanen Phase ist das Ziel der Angriffe darauf ausgerichtet,
den Verteidigungswiderstand des Taliban-Regimes zu brechen. Es ist bekannt,
dass die Taliban als zur Hälfte Staat und zur Hälfte Guerillaorganisation
charakterisiert werden können. Mit den Angriffen soll die staatliche
Dimension weggefegt werden. Es lässt sich davon ausgehen, dass die
Bombardierungen in dieser Hinsicht ihre Wirkung erzielen werden. Nach
den Bombardierungen wird der Einsatz von Bodentruppen durch die oppositionellen
Kräfte, die als Nordallianz bezeichnet werden, mit einer begrenzten
Beteiligung der USA aktuell werden. Sowohl durch die Auswirkung der Bombardierungen
als auch durch den bevorstehenden Angriff von Bodentruppen der USA und
der Nordallianz werden die Taliban wahrscheinlich in vielen Stadtzentren
ausgeschaltet werden. Die USA und die Opposition der Taliban werden bestimmte
Zentren einnehmen und die Gelegenheit nutzen, eine Verwaltung zu bilden.
Insofern ist es möglich, dass die Angriffe dieser Phase zu einem
bestimmten Erfolg [für die USA] führen. |