Özgür Politika, 24.01.2002 Keine Zeit zu verlieren 2. Teil des Interviews mit PKK-Präsidialratsmitglied Mustafa Karasu über die Beziehung zwischen der Türkei und den USA sowie die jüngsten Entwicklungen im Irak und in Südkurdistan von Nurdogan Aydogan Es gibt verschiedene Bewertungen darüber, ob der Besuch des türkischen Premierministers Bülent Ecevit in den USA erfolgreich verlaufen ist oder nicht. Wie bewerten Sie die Sache? Wie wir wissen, haben die USA den Besuch Ecevits nach dem 11. September verlangt. Auch wenn bei den stattgefundenen Gesprächen die Themen zur Sprache gekommen sind, die an die Öffentlichkeit weitergegeben wurden, sollte sinnvollerweise betont werden, dass es hauptsächlich um die neue Situation nach dem 11. September weltweit und in der Region ging. Insofern nützt die Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg Ecevits nur dazu, die Kernangelegenheit des Besuches zu verbergen. In Hinblick auf die Türkei ging es nicht um die Zusicherung von Unterstützung oder um Erfolg und Misserfolg. Die Türkei wurde eingeladen, um sie der nach dem 11. September veränderten US-Politik anzupassen. Ecevit hat diesen Umstand mit einem Satz umschrieben: "Bei früheren Gesprächen ging es lediglich um eine Zweierbeziehung; dieses Mal haben wir über alle Probleme der Welt und der Region gesprochen, damit hat sich der Umfang unserer Beziehungen erweitert." Unserer Meinung nach sind es diese Worte, die die Wirklichkeit der Gespräche am besten ausdrücken. Der Besuch wurde einhergehend mit bestimmten Veränderungen in der US-Aussenpolitik aktuell. Daher sollten die Änderungen und die Gründe dafür in Kürze dargestellt werden. Die Vorfälle vom 11. September haben die USA aus ihrem irrtümlichen Blick auf die Welt erweckt. Hier gilt das Sprichwort ´Ein Unglück ist besser als tausend Ratschläge`. Die USA reagierten gewalttätig auf den 11. September. Sie kündigten die Bestrafung der Täter an. In der Hitze der Ereignisse wurden Analysen und Bewertungen gemacht, die im Gegensatz zur objektiven Situation der Welt standen. Es hiess, dass ab sofort die Menschenrechte nicht mehr wie in früherem Ausmasse Beachtung finden und die Schrauben in der Gesellschaft angezogen werden, denn: "Von der Freiheit profitieren die Terroristen, deshalb müssen verschiedene Rechte beschnitten werden". Bei den Wortführern dabei handelte es sich entweder um zu oberflächlichen Bewertungen Neigende oder um Kreise, die von repressiven Regimen profitieren. Dazu gehörte auch die Türkei. Seit 150 Jahren hat sie von ihrer geopolitischen Lage profitiert und wie hat sie sich über ihre "gestiegene Bedeutung nach dem 11. September" gefreut. Denn eine strategische Bedeutung heisst in einer Welt voller Spannungen und Kämpfe "Geld". Bereits nach dem Golfkrieg hatte die Türkei sich über ihre gestiegene strategische Wichtigkeit gefreut. (...) Aus der Vermarktung strategischer Bedeutung geht eine Herangehensweise hervor, die sich gegen eine Stabilität auf der Welt und in der Region wendet. Die Türkei steht an der Spitze der Länder, die den 11. September falsch bewertet haben. Aus diesem Grund hat sie ihre Politik gegen den Strom der Welt weiterverfolgt. Ist in der US-Politik mit dem 11. September eine neue Situation entstanden? Die USA haben sich bemüht, den 11. September objektiver zu bewerten, weil sie ihn selbst erlebt haben. Eiligst haben sie die Bestrafung und das Treffen internationaler Massnahmen gegen diese Art von Aktionen auf die Tagesordnung genommen. Allerdings sind sie zu dem Ergebnis gekommen, dass sie mittel- und langfristig auch ihrer Verantwortung der Welt gegenüber nachkommen müssen. Man kann sagen, dass sie eine neue imperialistische Herrschaftspolitik verfolgen, die die imperialistische Politik aus der Zeit des kalten Krieges noch übersteigt. In dieser Politik besteht auch das Bewusstsein darüber, dass der Anspruch "alles für meinen Vorteil, meine Profite und nach meiner Lebensweise" wie ein Bumerang auf sie selbst zurückgefallen ist. Es besteht der Gedanke, dass die globale Herrschaft andere, neue Eigenschaften haben muss. Es gibt ein Verständnis davon, dass die heutige Globalisierung (...) zu gefährlichen Ergebnissen kommen kann. Es wird darüber nachgedacht, dass auch die Ausschaltung des Gegners mit Methoden aus der Zeit des kalten Krieges unerwünschte Resultate erbringen kann. Dass darüber nachgedacht wird, bedeutet nicht, dass das imperialistische und ausbeuterische System aufgegeben wird, aber über die Lösung bestimmter Probleme wird auf verschiedenen Ebenen nachgedacht und es wird nach Wegen gesucht, mit denen die einem Abgrund gleichenden Unterschiedlichkeiten und Widersprüche entschärft werden können. Ist damit die Bedeutung der Türkei gesunken oder sind andere Kräfte in den Vordergrund getreten? Die beiden Hauptkräfte, die die US-Intervention in Afghanistan zum Erfolg geführt haben, waren Russland und Iran. Das sind gleichzeitig die Kräfte, die vor dem 11. September auf internationalem Gebiet und in der Region am stärksten im Gegensatz zur USA standen. Die wichtigste Versammlung zum Thema Intervention gegen Afghanistan und Gründung der neuen Zeit wurde von der auf internationalem Gebiet verschleierten Konkurrenz der USA in Deutschland abgehalten. Auch das ist ein wichtiges Beispiel für die Charakteristik der Zeit nach dem 11. September. Diese neue Annäherungsweise wird sich am stärksten im Mittleren Osten bemerkbar machen. Die USA wollen dabei nicht nur auf die Achse Türkei-Israel zurückgreifen, sondern ihrer neuen Politik für die Region weitere Elemente zufügen. Dabei soll vermieden werden, eine klare Front aufzubauen wie zur Zeit des kalten Krieges. Das erfordert das 21. Jahrhundert und das Verständnis der neuen globalen Herrschaft. Man kann sagen, dass die USA gelernt haben, auch Verantwortung zu tragen und in bestimmtem Ausmass auch andere zu berücksichtigen. Natürlich muss sie auch dafür sorgen, dass ihre Verbündeten diese neue politische Herangehensweise annehmen. Die Türkei als ein Land, das immer noch seine alte Politik fortsetzt, handelt im Gegensatz zu der nach dem 11. September angebrochenen Zeit. Während selbst die USA erkannt haben, dass Probleme aus ihrer alten Politik hervorgegangen sind, mit der sie die ganze Welt ihr selbst anpassen wollte, gibt die Türkei diesen Anspruch nicht auf, demgemäss sie eine Anpassung an sich fordert. Sie sagt: "Ich bin eine wichtige Verbündete, nimm deshalb mich zur Grundlage, ansonsten verderbe ich das Spiel." Da die Bedingungen der früheren Welt ihr die Möglichkeit boten, ihre Erpressungspolitik durchzusetzen, hat sie diese Möglichkeit häufig genutzt. Jetzt sagen die USA: "Du kannst nicht mehr nur noch an dich selbst denken, das müsstest du nach dem 11. September begriffen haben." Und sie fordert von der Türkei, ihre Politik der internationalen und regionalen Politik anzupassen. Betont wird dabei, dass die Zeit der Politik vorbei ist, die egoistisch lediglich auf den eigenen Vorteil bedacht war. Die Türkei hat bis heute weder international noch regional Verantwortung getragen. Sie hat sogar ihren eigenen Völkern gegenüber keine Verantwortung übernommen. Ihre Innen- und Aussenpolitik hat sie zu Diensten einer Handvoll Oligarchen laufen lassen. Grundsätzlich hat sie das kurdische Volk, die inländische Opposition und die Probleme unterdrückt. Die USA verkünden nun als grosse Verbündete das Ende der Verantwortungslosigkeit und der Zeit, in der die Türkei immer nur sich selbst als Hauptsache gesehen hat. Sie sagen: "Wir haben nicht nur mit dir eine Zweierbeziehung, sondern auch eine regionale und globale Verantwortung, Und auch du wirst dich dem anpassen." In Zusammenhang mit dieser Tatsache steht auch die inhaltliche Betonung der stattgefundenen Gespräche mit Ecevit auf den weltweiten Problemen. Wenn Ecevit sagt, "wir sind zum Weltstaat geworden", will er in ironischer Form ausdrücken, dass die USA als eine imperialistische und kolonialistische Kraft, von der die Türkei abhängig ist, die Türkei dazu drängt, ebenfalls Verantwortung zu tragen gegenüber der Region und der Welt. Das ist der Kern der Angelegenheit. Wir denken auch, dass mit Ecevits Besuch die Balance der Türkei eingestellt wird. Was können Sie zum möglichen Verlauf zukünftiger Entwicklungen sagen? Aus der nach dem 11. September begonnenen Phase wird eine Anpassung der Türkei an die Situation resultieren. Die Türkei ist auch noch stärker als früher an die USA gebunden, von ihr abhängig. Die Zeiten, in denen wie in den sechziger Jahren die [türkischen] Ministerpräsidenten sagten "morgen früh wird eine neue Welt gegründet, und auch wir werden dort unseren Platz einnehmen" sind Vergangenheit. Die Türkei hat nicht die Chance, sich wie einst angenommen einfach anderen Vorlieben zuzuwenden. Dabei darf nicht übersehen werden, dass die Beziehung zu den USA als Zentrum der Globalisierung ein solches Resultat hervorgebracht hat. (...) Denn eine Politik, die ausschliesslich die Profite einer einzigen Macht in Betracht zieht, ist von Anfang an zum scheitern verurteilt. Auch die Türkei wird in internationalen und regionalen Dimensionen und Gleichungen denken und endlich von ihrem einseitigen Drängen absehen. Die geographische Lage der Türkei ist tatsächlich sehr wichtig. In der heutigen Situation ist aus der Türkei eine Gegend geworden, in der ein vieldimensionales Verantwortungsgefühl notwendig ist. Auf eine Art wird der Türkei eine Verantwortung aufgeladen, der sie sich gezwungenermassen anpassen muss. Die hier Lebenden müssen sich eine reifere und konstruktivere Haltung zulegen. In der globalisierten Welt gibt es den Luxus nicht mehr, zu sagen, "diese Gegend gehört mir und ich benutze sie, wie ich will". Die Türkei hat immer von ihrer geopolitischen Lage gesprochen; diese geopolitische Lage hat einhergehend mit der Globalisierung eine neue Dimension bekommen und der Türkei eine neue Verantwortung und Verpflichtung aufgeladen. So muss man die Hauptdimension des USA-Besuches sehen. Die weiteren Dimensionen sind entweder die Vervollständigung oder die Ergebnisse dieses Kerns. Wenn wir die Frage auf der Ebene angehen, was gegeben und was genommen wurde, bzw. ob der Besuch erfolgreich war oder nicht, dann sehen wir diese Kernangelegenheit nicht. Und so gibt es in der Türkei auch immer noch gewisse Kreise, die diese Hauptsache nicht sehen und ihren Kopf wie der Vogel Strauss in den Sand stecken. Deshalb verschwenden sie ihre Zeit mit oberflächlichen Diskussionen darüber, was sie nun bekommen haben und was nicht. (...) Im normalen Verlauf der Beziehung zwischen der Türkei und den USA ist in diesem Rahmen keine Abweichung zu sehen. In den Dimensionen ausserhalb der genannten Kernangelegenheit werden die USA nichts tun, was die Türkei enttäuschen würde. Sie setzt ihre Unterstützung in der abgewogenen Dosierung in dieser oder jener Form fort. Dabei will ich nicht sagen, dass die Bedeutung der Türkei für die USA gesunken ist. Es ist undenkbar, dass die USA ein Land aufgeben, das sie jahrzehntelang subventioniert und vorbereitet haben. Sie werden nur zukünftig versuchen, die Türkei noch stärker für ihre eigenen Interessen zu benutzen. Kann zum Thema Irak von einer widersprüchlichen Herangehensweise der USA und der Türkei gesprochen werden? Es ist bekannt, dass die Irak-Politik der Türkei aufgrund der kurdischen Frage einige Unterschiede zu der der USA vorweist. Aber nach dem 11. September hat sich die Situation geändert. Die Türkei hat die Entschlossenheit der USA gesehen und zum Thema Irak die Linie verfolgt, ihre eigene Politik dem anzupassen. Als sie kundgetan hat, nicht gegen den Sturz des Saddam-Regimes zu sein, ist sie auch an dem Punkt angelangt, eine so beschränkte Autonomie oder Föderation wie möglich für die Kurden zu akzeptieren. So hat auch der Verteidigungsminister von der MHP angekündigt, die Politik könne den neuen Bedingungen entsprechend geändert werden. Eine ähnliche Erklärung kam vom Botschafter in den USA, Faruk Logoglu, der als Mittelost-Experte gilt und zu den Diplomaten der Türkei gehört, die strategische Gedanken produzieren. Die Türkei ist inzwischen soweit, in Südkurdistan die nationalen demokratischen Rechte der Kurden in irgendeiner Form in der Praxis und gesetzlich zu akzeptieren. Im Wissen, dass das häufig zur Sprache gebrachte Thema der Staatsgründung ohnehin nicht auf der Tagesordnung steht, lässt sie es kritisieren. Denn es sind die Südkurden, die jeden Tag betonen, keinen Staat gründen zu wollen. Die USA haben das zig Male bekräftigt und versuchen so, die Sorgen der Araber, des Iran und der Türkei zu besänftigen. (...) Wie von bestimmten Kreisen zur Sprache gebracht bzw. auch vom Generalstab bereits früher mitgeteilt worden ist, kann nicht davon die Rede sein, eine konfrontative Politik den USA gegenüber zu verfolgen. Alle diese Erklärungen haben den Zweck, die Verhandlungskraft aufrecht zu erhalten. Ziel ist es, bis zur Gründung eines Autonomiegebietes für die Turkmenen und der Sicherung von Stabilität im Irak, Militär in Südkurdistan zu halten. Am wichtigsten ist jedoch die Forderung an die USA und die Kräfte im Süden, im Gegenzug zur Einrichtung einer Autonomie oder Föderation im Süden die PKK zu vernichten. Was heute diskutiert wird und die Türkei als Resultat letztendlich erreichen wollen, hängt mit den Turkmenen und der PKK zusammen. Sie wird sich bis zum Schluss scheinbar weiterhin einer Staatsgründung im Süden widersetzen und ihre Verhandlungen fortsetzen, um darüber ihre Ziele zu erreichen. Es ist von einigem Nutzen, insbesondere diese Fakten zu kennen. Von einer antiamerikanischen Politik der Türkei zum Thema Irak kann nicht die Rede sein. Im Grossen und Ganzen ist eine Übereinstimmung erreicht worden. Die Einzelheiten werden - ein wenig auch den Entwicklungen entsprechend - festgelegt werden, wenn die Entscheidung zur Bewegung endgültig gefallen ist. Was kann über die momentane Lage der KDP und der PUK sowie über ihre Beziehung zur Türkei gesagt werden? Die Türkei weiss, dass KDP und PUK für die anderen Teile [Kurdistans] kein Beispiel darstellen können. Sie setzt darauf, innerhalb der Kurden, die eine Macht im Mittleren Osten darstellen, einen für Kollaboration anfälligen Teil zu benutzen, um Einfluss in der Kurdenpolitik zu gewinnen. Somit bleibt sie nicht ausgeschlossen von der Kurdenpolitik. Dementsprechend ist sie ja auch nach 1992 in Beziehung insbesondere mit der KDP getreten, nachdem sie ihren Fehler erkannt hatte, die Kurden vollkommen zu übergehen. Es ist die Türkei, die sogar den Fernsehkanal Kurdistan TV einrichten liess, um Anti-PKK-Propaganda zu machen und die KDP zu stärken. KDP und PUK haben nicht die Kraft, im Süden auf eigene Faust Politik zu betreiben. Ihre Politik ist auf die Politik der USA ausgerichtet. Es ist bekannt, dass KDP und PUK unfähig sind, gegenüber der Türkei ihren Willen hervorzubringen. Eigentlicher Ansprachpartner der Türkei sind die USA. Wenn die Kurden insbesondere mit der PKK eine Einheit bilden, könnten sie zu in der praktizierten Politik gute Resultate erzielen. Sie könnten innerhalb eines demokratischen Irak an Einfluss gewinnen und die Türkei dazu bringen, das zu akzeptieren. Wenn sie irgendetwas erreichen wollen, indem sie die PKK aussen vor halten und sich gegen die PKK aussprechen, werden sie enttäuscht werden. Lassen wir mal die Vorstellung aussen vor, die südkurdischen Kräfte und die Lage dort könnte ein Beispiel darstellen für andere Orte - sie werden sich nur auf den Beinen halten können, wenn sie sich auf die Realität des bewussten, lebendigen und kämpferischen Volkes im Norden stützen. |