Neue Zürcher Zeitung, 28.01.2002 Streit um Meinungsfreiheit in der Türkei Hartes Vorgehen gegen Kampagne für Kurdischunterricht In der Türkei sind Hunderte von Studenten, Schülern und Eltern festgenommen worden, weil sie Unterricht auf Kurdisch beantragt hatten. Die türkischen Nationalisten sehen darin den Versuch, die Republik zu spalten. Im Parlament ist zudem eine hitzige Debatte über das sogenannte Mini-Demokratisierungspaket entbrannt. it. Athen, 26. Januar In der Türkei sind in den letzten Wochen Hunderte von Eltern, Schülern und Studenten festgenommen worden, nachdem sie bei ihren Lehranstalten Antrag auf Unterricht in kurdischer Sprache gestellt hatten. Laut der liberalen Tageszeitung «Radikal» sollen bei den Behörden in 17 Städten insgesamt 10 000 Anträge eingegangen sein. Die Regierung war alarmiert. Hunderte von Festnahmen Als Erster gab Innenminister Rüstüm Kazim Yücelen den Befehl, solche Anträge als «Verstoss gegen die Verfassung» zu ahnden. In einer Erklärung, adressiert an Gouverneure und Gendarmerie-Kommandanten, bezeichnete er die Anträge für Kurdischunterricht in den Schulen als «Aktion des zivilen Ungehorsams». Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bezwecke mit dieser Strategie, die kurdische Identität zu stärken, schrieb er. Auch Justizminister Sami Türk bezeichnete die Forderung nach dem Einzug der kurdischen Sprache in den Schulen als verfassungswidrig. In Artikel 42 der Verfassung heisst es wörtlich: «An den Schulen darf türkischen Bürgern keine Sprache ausser das Türkische als Muttersprache unterrichtet werden.» Im Laufe der letzten zehn Tage sind landesweit Dutzende von Festnahmen vorgenommen worden. Die Sondergerichte untersuchen laut der türkischen Presse gegen zahlreiche Familien, während Universitäten Disziplinarverfahren gegen Studenten eingeleitet haben. Sprache als Ausdruck ethnischer Identität Die PKK bestreitet nicht, dass die Aktion von ihr initiiert worden sei. Die PKK-nahe, in Deutschland auf Türkisch veröffentlichte Tageszeitung «Özgür Politika» ruft in ihrem Leitbericht am Freitag die Kurden auf, in jeder Stadt und in jedem Dorf, in den Häusern und den Arbeitsräumen kurdisch zu sprechen und ihre Zeitungen und Bücher künftig auf Kurdisch zu veröffentlichen. Die Sprache sei nicht nur ein Kommunikationsinstrument, erklärte vor wenigen Tagen auch das führende PKK-Mitglied Mustafa Karasu am kurdischen, aus Westeuropa sendenden Fernsehkanal «Medya». Die Sprache habe eine «Seele» und trage die «Legenden und Charakteristika eines Volkes» in sich. Auch der PKK-Führer Abdullah Öcalan meldete sich zu Wort, der seit seiner Festnahme vor drei Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali vor Istanbul in Isolationshaft gehalten wird. Die Aktion um die kurdische Sprache dürfe nicht zu einer Kollision mit dem Staat führen, mahnte er am Freitag in der «Özgür Politika». Doch die Sprachkampagne und die Härte, mit der der Staat darauf reagierte, haben der Kurdenfrage eine neue politische Brisanz verliehen. Dies führte in der Öffentlichkeit zu einer hitzigen Debatte. Die Massenzeitung «Hürriyet» hat etwa die Auffassung der Hardliner in der Regierung vollumfänglich übernommen, spricht von einer getarnten Aktion der PKK-Terroristen, um die Republik zu spalten, und fordert noch mehr Härte. Die liberale «Radikal» kritisiert hingegen das Vorgehen der Regierung als «Komödie». Auf Druck der EU habe die Regierung eine Verfassungsreform zur Legalisierung der kurdischen Sprache in Massenmedien und Lehranstalten vorgenommen, habe aber im Strafgesetzbuch alle Paragraphen unverändert beibehalten und damit die Verwirklichung jeder Reform verunmöglicht, kommentierte der Kolumnist Enis Berberoglu. Ein «Mini-Demokratisierungspaket» Die Hoffnung auf eine wirkliche Demokratisierung im Rahmen einer Annäherung an die Europäische Union, die die Verfassungsreformen letzten Herbst geweckt hatten, schlägt allmählich in Verbitterung um. Dass die juristische Kommission des Parlaments am Donnerstag das sogenannte Mini-Demokratisierungspaket der Regierung angenommen hat, wird in liberalen Kreisen als deutlicher Rückschritt im Demokratisierungsprozess empfunden. Mit dem «Mini-Demokratisierungspaket» sollten nämlich die Einschränkungen der Meinungsfreiheit aufgehoben und die Gesetze den entsprechenden europäischen Vorlagen angepasst werden. Davon betroffen waren vor allem Artikel 312 des Strafgesetzbuches zur Volksverhetzung sowie Artikel 159 zu Beleidigung oder Verunglimpfung des Staates oder der Streitkräfte. Auf Grund dieser juristisch eher vage definierten Artikel wurden in den letzten zwei Jahrzehnten Dutzende Intellektuelle und Politiker hinter Gitter gebracht. Der Entwurf der Regierung sieht nun tatsächlich eine Minderung der Strafen für solche Straftaten von 6 auf 1 bis 3 Jahre Haft vor. Dafür wurde der Kreis der Institutionen, die nicht beleidigt werden dürfen, ausgeweitet. Wie es im Entwurf explizit heisst, wird künftig bestraft, wer «die türkische Identität, die Republik, die türkische Nation, den türkischen Staat, das türkische Parlament, den Ministerrat, vereinzelte Ministerien, die Justiz, das Militär, die Polizei oder andere Sicherheitskräfte des Staates» beleidigt oder verunglimpft. Sollte ein türkischer Bürger im Ausland gegen Artikel 159 verstossen, so kann seine Strafe um ein Drittel erhöht werden. |