junge Welt, 07.02.2002 Karin
Leukefeld Gegen Kampagne für muttersprachlichen Unterricht setzt Ankara auf Terror Mit alten Reflexen reagieren die türkischen Behörden auf die Kampagne der kurdischen Demokratiebewegung für muttersprachlichen Unterricht in Schulen und Universitäten. Aus der kurdischen Metropole Diyarbakir wurden in diesem Zusammenhang jetzt massive Fälle von Folter bekannt. Die in Istanbul erscheinende Wochenzeitung Yedinci Gündem berichtet in ihrer neuesten Ausgabe, daß Schülerinnen und Schüler von der Polizei und den Schulbehörden richtiggehend gejagt werden. In der Zeitung kommen Schülerinnen zu Wort, die schwer gefoltert und bedroht wurden. Nachdem am Atatürk-Gymnasium in Diyarbakir kleine Flugblätter für muttersprachlichen Unterricht aufgetaucht seien, hätten Polizeibeamte die Jugendlichen aus dem Unterricht geholt und zunächst in Anwesenheit des Direktors oder von Lehrern verhört. Einige seien dann zur Antiterrorabteilung der Polizei gebracht worden. Dort habe man ihnen die Augen verbunden, sie nackt ausgezogen und mit einem kalten Wasserstrahl bespritzt. Sie wurden mit Elektroschocks gefoltert und auf den Kopf geprügelt. Den jungen Schülerinnen drohte man abwechselnd mit Vergewaltigung und langjähriger Haft. Sie sollten zugeben, die Flugzettel im Auftrag der pro-kurdischen Oppositionspartei HADEP verteilt zu haben, so eine der Betroffenen gegenüber Yedinci Gündem. Außerdem sollten sie aussagen, daß hinter der Kampagne die PKK stecke. Einige unterschrieben in ihrer Not schließlich blind ein Protokoll, das eine entsprechende Aussage enthielt. Das allerdings erfuhren sie erst später durch den Staatsanwalt. Angesichts solcher Vorkommnisse klingt es wie Hohn, daß nach zehn Jahren die türkische Regierung die Aussetzung von Artikel 5 der Europäischen Konvention für Menschenrechte für die kurdischen Gebiete aufgehoben hat. Dieser Artikel legt fest, daß die Festnahmezeit ohne richterlichen Haftbefehl nicht länger als vier Tage dauern darf. Der Artikel war 1992 von Ankara für die kurdischen Gebiete ausgesetzt worden. Der geplante EU-Beitritt ist in der Türkei nicht unumstritten. Viele wähnen »fremde Kräfte« hinter den EU-Kriterien, die die »türkische Nation spalten« wollten. Das Vorgehen der Sicherheitskräfte in den kurdischen Gebieten, die noch immer dem Ausnahmerecht unterliegen, das schamlos jedes Menschenrecht verhöhnt, scheint ein Ausdruck davon zu sein. Für Streit in der Regierungskoalition sorgte jetzt ein »Minipaket für Demokratie«. Das Parlament will die Artikel 159 und 312 aus dem Strafgesetz reformieren. Dabei geht es um »Volksverhetzung« und »Verunglimpfung des Staates«. Diese zwei Gummiparagraphen beförderten in der Vergangenheit viele kritische Geister hinter Gitter. Während der ANAP-Vorsitzende und EU-Beauftragte Mesut Yilmaz die Vorlage als unzureichend kritisiert, besteht die nationalistische MHP darauf, beide Artikel zu erhalten. Die proislamische Wohlstandspartei sah sogar eine totalitäre Geisteshaltung hinter der Reformvorlage. Tatsächlich werden mit den vorgelegten schwammigen Formulierungen die Möglichkeiten für strafrechtliche Verfolgung eher willkürlich erweitert als eingeengt. EU-Vertreter
zeigten sich kürzlich bei einem Besuch in Ankara besorgt über
den Streit. Sie teilten Regierungschef Bülent Ecevit mit, daß
über die bisherigen Gesetzesreformen bei der EU großes Unbehagen
bestehe und man sie für unzureichend halte. Mitte Februar wird EU-Kommissar
Günter Verheugen in Ankara erwartet, wo er die EU-Anforderungen zur
Sprache bringen wird.
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