Özgür Politika, 27.03.2002 Mut für eine Lösung aufbringen' Interview mit PKK-Präsidialratsmitglied Murat Karayilan Von Nurdogan Aydogan Welche Resultate können aus den diesjährigen Newrozfeiern gezogen werden? Das
kurdische Volk hat zu Newroz 2002 an alle betreffenden Kreise, in dem
es aufgestanden ist und seine Forderungen mit lauter Stimme kundgetan
hat, eine sinnvolle Botschaft gerichtet. Mit den diesjährigen Newrozfeiern
hat das kurdische Volk gezeigt, dass es die Kraft ist für Frieden,
Freiheit und eine demokratische Lösung, dass diese Linie verfestigt
worden ist und sie als eine Lebensfrage angegangen wird. Mit seiner massenhaften
Beteiligung an Newroz hat es das Niveau gezeigt, das inzwischen erreicht
wurde. Damit hat es sowohl den internationalen Kräften eine Botschaft
vermittelt als auch den Staaten, die über Kurdistan herrschen, und
insbesondere dem türkischen Staat. Es hat zum türkischen Staat
gesagt: "Wenn du mit mir gemeinsam in Frieden und Ruhe leben willst,
musst du mich anerkennen und mir im Rahmen einer demokratischen und freien
Einheit meine nationalen Rechte geben." Wenn man sich also die Herangehensweise des kurdischen Volkes trotz aller Schwierigkeiten vor Augen führt... Vielleicht
muss man auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen: Hunger und Armut
sind gross in der Türkei und Kurdistan. Aber das kurdische Volk erwähnt
dieses Thema trotzdem nicht mit einem Wort. Denn die grundlegende Frage
ist die Anerkennung seiner ideellen Werte und seiner Realität. Wenn
den ideellen Werten eines Volkes kein Wert beigemessen wird, sie nicht
anerkannt und sogar verboten werden, wird es sich selbst immer als ein
Sklave im Reichtum und in der Vielfalt sehen, solange es nur über
ein bisschen Würde und Ehre verfügt. Und das Volk hat gezeigt,
dass es sich genau so der Frage annähert. Es setzt sich ein für
seine eigenen ideellen Wertmasstäbe und will keinen Status von Unterdrückten,
Ausgelöschten, Verängstigten, sondern sehnt sich nach einer
würdevollen, freien Einheit und Frieden. Was könnte besser sein?
Warum wird sich davor gefürchtet? Warum wird derartig gerechtfertigten
und demokratischen Forderungen mit Verboten begegnet? Selbst das schlichteste,
gewöhnlichste Recht, das Recht auf Sprache, wird als zu viel betrachtet.
Es ist offensichtlich, dass diese Politik verkehrt ist und zu nichts führen
kann. Wie bekannt ist, gab es an den Orten, wo die Feiern genehmigt worden sind, keinerlei negativen Vorfälle, während in Mersin und Istanbul aufgrund der Verbote Auseinandersetzungen stattfanden... Ich
finde die Haltung, die das Volk gegen die Verbote gezeigt hat - nicht
schweigen und Widerstand leisten - sehr positiv und gerechtfertigt. Angesichts
von Ungerechtigkeiten darf nicht geschwiegen werden. Für die nationalen
Werte muss unter allen Bedingungen Einsatz geleistet werden. Wir als kurdisches
Volk haben in der Türkei nur ein einziges Newroz, und ein Verbot
ist unakzeptabel. Deshalb ist das Verhalten, das unser Volk gegen die
Verbote entwickelt hat, angemessen und ein legitimes Recht. Ich beglückwünsche
insbesondere unsere Bevölkerung in Mersin für ihre Entschlossenheit,
ihren Mut und ihre widerständige Haltung. Der geleistete Widerstand
hat dafür gesorgt, dass die Gegenseite einen Schritt zurückmacht,
und war konstruktiv. Es gab zwei Gefallene, aber es wurde Einsatz gezeigt
für die nationalen Werte. Trotz Verwundeter, Verhaftungen und Gefallenen
hat das Volk ein beispielhaftes Verhalten gezeigt. Wie wirkt sich die Fortsetzung der Verbotsmentalität auf die politische Atmosphäre aus? In der Führung der Türkei herrscht zum Thema Entwicklung des Friedens Unklarheit. Der türkische Staat muss seine Politik klären und verdeutlichen. In dieser Atmosphäre von Unklarheit ist auch sichtbar, dass es gewisse innere Widersprüche und Kämpfe gibt. Das wollen die Banden und Kriegsprofiteure ausnutzen. Sie versuchen, zu provozieren. Über die Verbote und das gewalttätige Vorgehen in Mersin, Istanbul, Sirnak, Bitlis und vielen weiteren Orten wird wie von Massakerversuchen gesprochen. All das zeigt, dass diejenigen, die im Besitz einer solchen Haltung sind, die Vertreter einer bestimmten Auffassung sind. Es sind die Elemente, die das Verständnis der profitsüchtigen, mafiösen Kreise in die Praxis umsetzen. Wir sind uns sicher, dass eine Untersuchung der Zuständigen auf diesem Gebiet hervorbringen würde, dass hinter ihnen die Hintermänner der Susurluk-Bande stecken. Mit grosser Wahrscheinlichkeit steht hinter diesen Persönlichkeiten die Truppe von Ciller und Kreise, die sich noch auf andere Brennpunkte stützen. Wir wissen, dass diese Tendenz in der Türkei vorhanden ist. Während diese Tendenz in der generellen Politik der Türkei auf dieser oder jener Ebene versucht, Einfluss auszuüben, profitiert sie gleichzeitig von der unklaren Situation, die der Staat in bezug auf die kurdische Frage erschaffen hat, ergreift Initiative und kann mit der Zeit weiter an Einfluss gewinnen. Muss man die Bombardierung von HPG-Camps [Volksverteidigungskräfte] am gleichen Tag als einen Teil dieses Entwicklungsprozesses bewerten? Ja,
auch die Bombardierung von HPG-Lagern am Newroztag hängt mit dieser
Situation zusammen. Diejenigen, die diese Flieger zu unseren Lagern geschickt
haben, sind die Kreise, die mit den Verboten in Istanbul und Mersin den
gleichen Fokus vertreten. Auffallend sind insbesondere die Ansprachen
der Luftwaffenkommandantur, die einen Tag zuvor während des Besuches
der Gräber der im Krieg Gestorbenen gehalten worden sind. Die Ankunft
der Flieger einen Tag später bedeutet sozusagen die Praktizierung
dieser Worte. Man sagt Bombardierung, aber im Grunde genommen kann man
es so gar nicht bezeichnen. Vielmehr kann man es als einen Übergriff
bewerten. (...) Zur Zeit des Angriffes, zwischen 14 und 14.30 Uhr, gab
unser Volk überall im Land auf den Plätzen eine Botschaft ab.
Auch sie haben uns in dieser Form wahrscheinlich eine Botschaft vermittelt.
Der Vorfall fand in bedrohlicher Absicht und in der Form von Niedrigflügen
und einem partiellen Beschuss statt. Entgegen den Berichten einiger Nachrichtenagenturen
kam es zu keinen Verlusten. Ohnehin war der Bombenabwurf begrenzt und
eher zufällig. Was sind die Ergebnisse der Mittelost-Reise von Dick Cheney? Dick
Cheneys Besuch in der Region war darauf ausgerichtet, auf den Puls zu
fühlen. Er hat alle führenden Länder der Region besucht;
die meisten davon sind Verbündete der USA. Heutzutage finden die
meisten der diplomatischen Aktivitäten hinter dem Vorhang statt.
Die wichtigen Themen finden sich nicht in den Medien wieder, aber wenn
wir eine Bewertung entsprechend der Darstellung in den Medien anstellen,
zeigt sich, dass die meisten Länder der Region ihre Gegnerschaft
gegen eine Intervention im Irak deutlich gemacht haben. Bei Cheneys Türkei-Besuch wurden verschiedene Ansichten deutlich. Hat die Türkei bei dem Treffen das von ihr angestrebte Resultat erzielt? Man kann nicht davon sprechen, ob für die Seiten irgendein Resultat erzielt worden ist oder nicht. Die USA haben sich mit dem Staatspräsidenten der Türkei, dem Ministerpräsidenten und dem Stabschef getroffen, dabei deren Meinung eingeholt und ihre eigene mitgeteilt. Soweit es sich in den Medien wiedergespiegelt hat, hat die Türkei dabei die Ansicht vertreten, dass sie gegen eine Intervention ist, weil sie ihr Schaden zufügen kann. Klar ist auch, dass im Falle einer Intervention die Beteiligung und Gewährung von Unterstützung zum Verhandlungsthema gemacht worden ist. Bis zu einem bestimmten Grad sagt die Türkei, "wir sind dagegen", aber wenn es doch eintreffen sollte - und die Türkei weiss, dass sie es nicht verhindern kann - dann möchte sie auch Anteil haben an dem Plan. Wenn wir zu dem Thema kommen, ob die Türkei das bekommen hat, was sie wollte - die USA bekommen eigentlich alles in der Türkei, was sie wollen. Denn die Türkei ist in vielerlei Hinsicht von den USA abhängig. Es ist klar, dass die USA die Türkei soweit kriegen können, wie sie wollen, wenn sie mit Geld winken oder gewisse Garantien geben. Eine Verhandlung ist dabei nicht Thema. In Anbetracht der bestehenden Beziehungen ist ein Feilschen für die Türkei nicht möglich. Sie kann ihren Unwillen und ihre Meinung mitteilen, aber sie zeigt auch, wie sie sich im Fall des Falles verhalten wird. Wir glauben nicht, dass sie darüber hinaus gehen kann. Vielleicht verfügt sie im Verborgenen in verschiedener Form noch über ein anderes Verhalten und eine andere Haltung. Und so wissen wir auch, dass die Türkei derartige Anstrengungen verfolgt. Insbesondere die kurdische Frage betreffend fährt sie zweigleisig. Dabei handelt es sich zum einen um die Arbeit über die USA und Europa, zum anderen um die Tätigkeit, die über die Aussenminister der Staaten läuft, die über Kurdistan herrschen. Die Aktivitäten der Türkei sind zweigesichtig. Aber trotzdem ist sie nicht in der Lage, die USA zurückzuweisen. (...) |