Für Europäer und Nichtkurden scheint es grausam und qualvoll,
wenn sich eine 25jährige Frau, mit mehreren Kilo TNT in die
Luft sprengt. Diejenigen aber, die den Preis der Freiheit und Unabhängigkeit
aus eigener Erfahrung kennen, werden Zilan
verstehen und rufen sie daher als Freiheitsgöttin aus. Zilan steht
für die bedingungslose Aufopferung für die Freiheit. Der Name
Zilan, ein traditioneller Name kurdischer Frauen, hatte bis zum 30.
Juni 1996 nur eine gewöhnliche Bedeutung. Heute aber
tragen Tausende von neugeborenen Mädchen und Guerilleras diesen
Namen. Zilan ist der Aufruf zur Phase der endgültigen
Befreiung. Zilan und ihre Aktion sind Resultate der tragischen Verfolgungsgeschichte
des kurdischen Volkes. So tief die
Unterdrückung und Erniedrigung eines Volkes durch eine Fremdmacht
ist, um so gewaltiger und atemberaubender müssen
seine Widerstandsformen sein. Dies ist das Gesetz der Natur, der Dialektik
Unterdrückung-Widerstand. In den 70er Jahren
begann in Kurdistan unter der Führung der PKK ein erneuter Versuch,
das seiner Anzahl nach größte staatenlose Volk einen
Befreiungskampf. Die Schwierigkeit des Kampfes liegt nicht darin, den
sichtbaren Feind militärisch zu besiegen. In der
Geschichte der Kurden gab es viele tapfere und mutige Kämpfer
und Kämpferinnen. Die Niederlagen traten immer dann ein,
wenn der innere Verrat einsetzte. Die innere Angst, den Feind in sich
nicht zu besiegen, führte oft zur Niederlage.
Hätte Mazlum Dogan am 21. März 1982 im Gefängnis von
Amed (Diyarbakir) durch seine Selbstverbrennung nicht den Ruf
gegen Verrat und Angst vor dem Feind ausgeschrieen, hätten die
meisten Insassen des Gefängnisses die Widerstandswelle nicht
emportragen können. Mazlum Dogan sah als ZK-Mitglied der PKK die
quantitative Überlegenheit des Feindes und die geringe
Erfahrung seiner Freunde im Bereich des Widerstands im Gefängnis.
Es war die Zeit der Militärjunta - die Zeit der grausamsten
Unterdrückung und Verfolgung. Mazlums Selbstverbrennung bewirkte
ein erneutes Aufflammen des Widerstandes. In dieser
Zeit entstanden Gedichte, Romane und Lieder der Auferstehung. Um die
in den Köpfen riesig erscheinenden Feinde und die
damit verbundene Angst zu besiegen, war Mazlums Tat ein historischer
Akt. Sein Resultat ist das heutige nationale
Wiederaufleben. Ihm folgten Zekiye Alkan mit ihrer Selbstverbrennung
am 21. März 1991 in Diyarbakir, Rahäan Demirel am
21. März 1992 in Izmir, Ronahi und Berivan am 21. März 1994
in Mannheim. Sie alle benutzten die mächtigste Waffe gegen
die Feinde der Menschheit: ihren eigenen Leib, ihr Leben. Sie gehören
zu jenen, die in die kurdische Geschichte eingegangen
sind. Die Kämpfer und Führer der Völker, die durch Kolonialisierung
zu den ãVerdammten dieser Erdeã geworden sind,
müssen für das Leben neue Werke schaffen. In unserem Zeitalter
werden fremde Faktoren oberflächlich behandelt. Statt die
Frage zu stellen, aus welcher Überzeugung solche Taten vollbracht
werden, konzentriert man sich auf die zerfetzten Körperteile
der Märtyrer. Zilan, Zekiye und alle anderen Heldinnen und Helden
unserer Geschichte leben. Sie leben weiter, weil ihre
hinterlassenen Worte und Erinnerungen dem jetzigen Kampf die Energie
und den Willen verleihen.
Durch ihren Mut und ihere Überzeugung schuf Zilan eine neue Art
des kurdischen Widerstandes. Die Zeilen und Sätze, die
diese Kämpferin hinterließ brachten ihre Bescheidenheit
zum Ausdruck. Zilan schrieb u.a.: ãIch möchte der Ausdruck
des
Freiheitskampfes meines Volkes sein.ã Der Preis dafür ist
aus der Sicht vieler Menschen das Undenkbare.
Kurz vor ihrer Aktion hinterließ Zilan mehrere Briefe. In einem,
der an die Öffentlichkeit gerichtet war, bringt sie die historische
Notwendigkeit ihrer Aktion zum Ausdruck:
ã... Ein Volk, dessen nationale Werte, dessen Seele, Bewußtsein
und Identität dem Feind ausgeliefert ist, zum Widerstand
aufzurichten, erfordert eine große Verantwortung, geschichtliches
Bewußtsein genauso wie Kühnheit und festen Entschluß.ã
In Kurdistan mußten und müssen außergewöhnliche
Taten vollbracht werden, um den Befreiungskampf zu beschleunigen und
qualitativ neue Phasen zu starten. Alle außergewöhnlichen
Aufopferungen der Helden und Heldinnen fanden zu den Zeiten statt,
in denen sich die Gefahr der Normalisierung eines Kriegszustandes anzeigte.
Für die Revolutionen ist die Akzeptanz des
Krieges als Normalzustand das Signal der Überlegenheit des Feindes.
Die Revolution in Kurdistan erfordert aufgrund der
äußeren Bedingungen, der strategischen Lage und der neuen
Weltkonstellation einen langwierigen Kampf. Qualitativ und
quantitativ gesehen ist heute die kurdische Befreiungsbewegung die
einzig existente organisierte revolutionäre Massenbewegung.
Die Freiheitsbewegung Kurdistans hat sich auch für jene zu kämpfen,
die weltweit unter den sich verschlechternden
wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen zu verelenden drohen. Dies
macht Zilan in den Schlußsätzen eines ihrer Briefe
deutlich: ãMein Lebenswille ist stark. Mein Wunsch ist ein erfülltes
Leben durch eine große Aktion. Der Grund für diese Aktion
ist meine Liebe zu den Menschen und zum Leben.ã
Kurze Biographie von Zilan:
Zilan (Zeynep Kinaci) kam 1972 im Dorf Elmali
bei Malatya zur Welt. Nach dem Studium der Fächer
Tourismus und Psychologie an der Inönü
- Universität in Malatya - arbeitete sie in der Staatsklinik als
medizinisch-technische Assistentin. Sie
kommt aus einer Familie, deren wirtschaftliche Lage als
mittelmäßig einzustufen ist.
Sie genoß eine liberale Erziehung.
Zilans Interesse für Politik begann
während ihrer gymnasialen Ausbildung. Hier entwickelte sie Sympathie
für die Linke und die kurdische Bewegung
und im Laufe ihres Studiums für die PKK. 1994 schloß sie sich
der Bewegung an und war ein Jahr in der
Frontarbeit in Adana tätig. 1995 ging sie zu den
ARGK-Guerillakräften in die Region
Dersim.
Am 30. Juni 1996 führte sie ihre Selbstmordaktion
während einer Militärparade im Stadtzentrum von
Dersim durch.
(aus Kurdistan Report Nr. 86, 1997)